Massenarmut in Kosova unter der UN-Verwaltung

ArbeiterInnenproteste im UNMIK-Protektorat
Max Brym, München

Ende Dezember 2005 legte das in Pristina beheimatete Wirtschaftsinstitut Riinvest eine Studie zur sozialen Lage in Kosova vor. Das Institut diagnostizierte, dass in Kosova „über zwölf Prozent der Einwohner in extremer Armut leben“. Weitere 50 Prozent leben „in trostloser Armut“. Riinvest kommt zu dem Schluss: „Kosova ist das ärmste Gebiet in Europa.“
Offiziell sind in Kosova 53 Prozent der Menschen arbeitslos. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit dürfte allerdings bei 70 Prozent liegen. Das Durchschnittseinkommen eines Arbeiters liegt pro Monat zwischen 100 und 200 Euro. Hauptsächlich gibt es Tätigkeiten im öffentlichen Dienst und Beschäftigungsverhältnisse, die eng mit der UNMIK-Bürokratie verbunden sind (UNMIK ist die UN-Übergangsverwaltung). Ein Rentner erhält eine Pension von höchstens 35 Euro im Monat. Die Lebenshaltungskosten sind mit den Preisen in Deutschland zu vergleichen.

Interessen Serbiens

Kosovarische Einrichtungen wie das Parlament haben keinerlei Kompetenzen. Jeder Beschluss der örtlichen „Regierung“ muss dem Protektoratsleiter der UNMIK vorgelegt werden. Der serbische Staat regiert zusätzlich nach Kosova hinein, indem er serbische BeamtInnen, die mit 200 Euro von der UNMIK bezahlt werden, zusätzlich mit 500 Euro pro Monat ausstattet, um rein serbische Parallelstrukturen in Kosova zu entwickeln. Immer deutlicher zeichnet sich die Absicht der serbischen Regierung ab, Kosova ethnisch zu teilen.
Interessant ist für Belgrad der wirtschaftlich reiche Norden, das Gebiet um die Stadt Mitrovica. Einst war das Kombinat Trepca in Europa der zweitgrößte Betrieb in Sachen Zink-, Kupfer- und Bleiförderung. Heute liegt das ehemalige Kombinat brach. Die UNMIK vergab eine Option für die Förderung an ein französisch-schwedisch-amerikanisches Kapitalkonsortium. Dagegen wehrt sich die serbische Regierung. Im Bündnis mit der serbischen Regierung stehen private Firmen aus Frankreich und Griechenland. Überhaupt nicht zur Debatte steht die Forderung der albanischen Bergarbeitergewerkschaft, die die ehemaligen ArbeiterInnen als Eigentümer von Trepca betrachten. Die Bergarbeitergewerkschaft bot den serbischen ArbeiterInnen im Norden der geteilten Stadt Mitrovica ein Abkommen an, um gemeinsam die Produktion wieder aufzunehmen.

Wem gehört Ferronikel?

Im November 2005 wurde der Widerstand der ArbeiterInnen gegen die Privatisierung des strategisch wichtigen Industriegiganten Ferronikel in Drenas gebrochen. Dort sind derzeit 2.000 KollegInnen beschäftigt. Die UNMIK-Bürokratie setzte ihre gesamten Machtmittel ein, um Ferronikel gegen radikale Arbeiterproteste an den Investor Alferon zu verscherbeln. Es gibt eine „Treuhandagentur“ für die Abwicklung der kosovarischen Wirtschaft. An der Spitze dieser Institution steht wiederum der ehemalige Bürgermeister von Sindelfingen, Joachim Rücker. Zu Alferon, dem Konzern, der den Betrieb übernahm, erklärte Rücker: „Die Firma Alferon ist seriös, denn an ihr ist das renommierte Unternehmen Thyssen Krupp beteiligt.“
Nackte Wut verbunden mit Protesten richteten sich von Juni bis November 2005 gegen die Privatisierung der Fabrik Ferronikel. Am 21. Juli protestierten ArbeiterInnen der Metallarbeitergewerkschaft zusammen mit vielen anderen durch Drenas. Auf den Plakaten war zu lesen: „Wir verteidigen unseren Boden – die Regierung sollte für das Volk arbeiten, nicht für die eigene Tasche.“ Über drei Monate verhinderten die Beschäftigten den Besuch von Managern der Firma Alferon in Ferronikel. Es gab Barrikaden vor dem Firmengelände, hinter denen bewaffnete ArbeiterInnen standen. Mehrmals wurden Firmenvertreter aus Limousinen gezogen und nach Hause geschickt.

Kritik am gewerkschaftlichen Dachverband

Der gewerkschaftliche Dachverband BSPK gab den MetallarbeiterInnen wenig Rückendeckung. Es ist demzufolge kein Zufall, dass die Metallarbeitergewerkschaft zu den sechs Einzelgewerkschaften gehört, die in scharfer Opposition zum Dachverband stehen. Den Fall Ferronikel nahm der BSPK nicht zum Anlass, seinen angedrohten Generalstreik gegen die Privatisierungsorgie durchzuführen. Allerdings streikten die im Schuldienst beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder von Ende August 2005 für höhere Löhne und bessere Lehrbedingungen mehr als sechs Wochen. Die Lehrergewerkschaft steht im scharfen Gegensatz zum gewerkschaftlichen Dachverband BSPK. Der Streik konnte geplante Entlassungen verhindern und die Löhne im Schnitt um 20 Euro anheben. Die Lehrergewerkschaft schickte Delegationen nach Drenas zu den MetallerInnen und die Metallarbeiter von Ferronikel nahmen an zentralen Demonstrationen der Lehrergewerkschaft in Pristina teil.

Wie geht es weiter?

Das UNMIK-Experiment im Kosova wird von der Bevölkerung, egal welcher Nationalität, als gescheitert angesehen. Die AlbanerInnen nennen die UNMIK meist ARMIK, was auf deutsch „Feind“ heißt. Erregung lösen die Gehälter der UNMIK-Bürokraten aus. Der Chef der Telefongesellschaft verdient über 20.000 Euro monatlich. Ausländische Polizisten verdienen das Zehnfache ihrer einheimischen KollegInnen.
Von der in Kosova „regierenden“ Demokratischen Liga (LDK), dem politischen Arm der UCK, ist nichts zu erwarten. Gegenwärtig gibt es sowohl auf albanischer wie serbischer Seite nur Gruppen und Einzelpersonen, die sich für eine Beendigung des Nationalitätenkonfliktes aussprechen. Entscheidend könnte die Arbeit der unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft in Mitrovica und der MetallarbeiterInnen in Drenas werden. Die LPV (Bewegung für Selbstbestimmung), eine Organisation von 10.000 UnterstützerInnen, tritt gegen die UNMIK-Kolonialherrschaft in Kosova auf. Sie fordert die Unabhängigkeit und die Entscheidungsfreiheit der Gesellschaft. In den Publikationen der LPV finden sich Debatten über die „Schaffung einer neuen Linken in Kosova“. Abgelehnt werden sowohl der Titoismus als auch der Enverismus (Anhänger des früher stalinistischen Diktators von Albanien, Enver Hoxhas). Die LPV ist eine studentisch geprägte Organisation, die allerdings das Gespräch mit den ArbeiterInnen sucht.
Um eine multiethnische soziale Bewegung aufzubauen, ist es nötig, für das Recht der albanischen KosovarInnen auf Selbstbestimmung und für demokratische Rechte der SerbInnen sowie für einen gemeinsamen Kampf gegen jede Art von Fremdbestimmung, Privatisierungen und Ausbeutung einzutreten.

Mehr zum Thema: