Massenproteste im Libanon

Christine Franz

Massenproteste fordern die Macht der religiösen und politischen Eliten heraus

Seit 17. Oktober gibt es Massenproteste im Libanon. Diese Bewegung ist spontan entstanden, nachdem es mehrere Steuererhöhungen gegeben hatte, wie zum Beispiel eine Steuer auf die WhatsApp-Verwendung oder eine Erhöhung der Tabaksteuer. Da die Telefonkosten für viele Menschen zu teuer sind, telefonieren sie nur über WhatsApp, eine Besteuerung wäre damit ein schwerer Eingriff in die Infrastruktur des täglichen Lebens.

Ein sektiererisches politisches System

Seit dem Ende des Bürgerkrieges 1990 ist der Libanon von Parteien regiert worden, die sehr stark an dem Krieg beteiligt waren. Die Führer dieser Parteien sind ehemalige Warlords oder deren Söhne. Der einzige fundamentale Unterschied zwischen diesen Parteien ist die religiöse Gruppe, mit der sie verbunden sind. Das wird durch die Libanesische Verfassung noch verstärkt, die die Aufteilung der politischen Funktionen durch bestimmte religiöse Zugehörigkeit definiert. Der Präsident muss maronitischer Christ (eine alte Regionalkirche mit dem Papst als Oberhaupt), der Ministerpräsident (Exekutive) sunnitischer Muslim und der Sprecher der Nationalversammlung (Legislative) muss Schiit sein.

Die Sitze im Parlament müssen so aufgeteilt sein, dass sie repräsentativ für jede religiöse Gruppe sind.

Das scheint die religiösen Spannungen zu erleichtern, aber in der Realität dient es dem Profit der Elite, die damit die Gesellschaft immer mehr in religiöse Gruppen aufspalten kann, ganz nach dem „teile und herrsche“ Prinzip. Gleichzeitig dienten die religiösen Glaubensgemeinschaften als ein Ersatz für den Sozialstaat, indem die Kirchen und Moscheen die Armen mit Almosen versorgten, die damit an die „eigene“ religiöse Elite gebunden wurde.

Der 17. Oktober war der Beginn der ersten gegenwärtigen Bewegung gegen dieses System der religiösen sektiererischen Spaltung. Es hat zwar auch in der Vergangenheit Bewegungen gegen die Regierung gegeben, aber die waren geteilt anhand von religiöser Linien. Jetzt demonstrieren alle religiösen Gruppen gemeinsam (Sunniten, Maronitische Christen, Schiiten, orthodoxe Christen und Druzen). Sie marschieren gegen einen gemeinsamen Feind, nämlich die Regierung und deren verbündeten korrupten Eliten. Auch syrische und palästinensische Geflüchtete beteiligten sich, die vollständig aus dem politischen und ökonomischen System des Libanon ausgeschlossen sind, obwohl sie fast ein Viertel der Gestamtbevölkerung stellen.

Diese Entwicklung ist das Resultat von Jahrzehnten neoliberaler Politik und Sparkurs. Die öffentlichen Dienstleistungen sind unterfinanziert, dafür ist der Steuerdruck auf die untersten Schichten hoch. Seit 2008 hat die ökonomische Krise den Libanon hart getroffen und es gab 2017 einen Konflikt mit Saudi Arabien, sodass das Staatseinkommen drastisch gefallen ist. Die Folge waren dass die Regierung die Steuern angehoben hat und öffentliche Investitionen gesenkt hat.

2019 ist nun das schlimmste Sparpaket durchgezogen worden.

Der Widerstand wächst

Am 17. Oktober demonstrierten mehrere tausend Menschen unterschiedlichster Konfessionen gemeinsam. Mittlerweile ist die Zahl auf 2 Millionen angestiegen (Der Libanon hat zwischen sechs und sieben Millionen Einwohner , darunter etwa anderthalb bis zwei Millionen Geflüchtete)

Die Regierung hat schnell reagiert: Die Steuern wurden zurückgenommen. Doch die Bewegung hat Feuer gefangen: Das reicht der Bevölkerung noch lange nicht. Sie wollen das Ende des religiös sektiererischen Systems und den Rücktritt der Regierung.

Es wird ein progressives Steuersystem gefordert, soziale Sicherheit sowie Investitionen in Wasserversorgung und Elektrizität. Das Land leidet unter Stromausfall, weil zu wenig investiert wird. Die Reichen können sich eigene Stromölgeneratoren leisten und sind somit von diesen Ausfällen nicht betroffen.

Der Premierminister ist zurückgetreten und die religiösen Führer rufen zur sofortigen Gründung einer neuen Regierung. Die Eliten versuchen durch Zugeständnisse verzweifelt die Bewegung zu beruhigen.

Am 19. November gelang es Protestierenden eine Parlamentssitzung zu verschieben, indem sie Straßenblockaden durch Sitzstreiks organisiert haben um Parlamentariern den Weg zu versperren. Nicht genügend Abgeordnete konnten in das Parlament gelangen, obwohl die Polizei nicht zögerte auf die Protestierenden zu schießen. Die Protestierenden befürchteten den Beschluss neuer Korruptionsgesetze, und ein sogenanntes Generalamnestie-Gesetz, dass alle Politiker, die korrupt waren, begnadigen sollte.

 

An vorderster Front kämpfen junge Leute und Frauen

Nach ein paar Wochen dachten viele, dass den Protesten die Luft ausgeht. Aber die Jungen gaben der Bewegung neuen Drive.

Viele Schüler (zwischen neun und zwölf Jahren) weigerten sich in die Schule zu gehen und schlossen sich vor allem in den großen Städten den Protesten an.

41 Prozent des Landes sind unter 25 und 35 Prozent der 18-25 jährigen sind arbeitslos

Frauen sind erstmals an vorderster Front der Proteste. Sogar in den religiösen Regionen erheben sich Forderungen für mehr Frauenrechte. Eine Frau hat dort nur 60 Prozent der Rechte der Männer. Sie bekommt zum Beispiel nur Familienbeihilfe wenn der Mann nicht arbeiten kann oder tot ist. Ein Kind kann unter 16 zur Heirat gezwungen werden, wenn die Eltern zustimmen. Frauen fordern ein neues Gesetz, das sie Männern rechtlich gleichstellt.

Perspektiven für die Bewegung

Es ist die erste derartige Massenbewegung des Landes. Natürlich unterstützen wir enthusiastisch die Bewegung aber wir müssen die Schwächen kennen.

Die Bewegung muss sich in den Arbeitsplätzen organisieren. Weniger als acht Prozent der Arbeiter*innen sind Mitglieder in den Gewerkschaften. Die Führer*innen der Gewerkschaften arbeiten mit den Parteien zusammen.

 Die stalinistische Kommunistische Partei des Libanon arbeitet mit der Hisbollah zusammen, wegen deren Positionierung gegen die USA und Israel.

Der Mangel an Führung ist ein ernstes Problem für diesen Aufstand. Das zeigt sich in der Forderung einer Übergangsregierung aus „Expert*innen“. So eine Regierung hat ihre Grenzen. Selbst wenn ein paar soziale Forderungen umgesetzt werden würden, würde so ein System noch immer mit den Eliten des Landes kooperieren. Außerdem besteht die Gefahr, dass diese „Expert*innen“ einen neoliberalen Umbau im Sinne des IWF durchführen.

Auch ausländische Einmischungen würden nur imperialistischen Interessen dienen.

Eine Forderung könnte die nach einer revolutionären Versammlung sein, die wirklich die Interessen der unterdrückten Menschen und Arbeiter*innen vertritt und fordert, dass die Großkonzerne enteignet werden und allen dienen und nicht einer kleinen Elite.

Ausblick

Obwohl es rund um die Jahreswende ruhiger um die Proteste im Libanon geworden ist, demonstrierten in der zweiten Jänner-Woche wieder Menschen und lieferten sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die zugrundeliegenden wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen treiben die Bevölkerung auf die Straße.

Auch wenn die Protestwelle abebbt, werden die Ursachen der Proteste nicht verschwinden. Es braucht eine revolutionäre Partei die, die Lehren aus den Protesten verallgemeinert und eine sozialistische Alternative zu den kapitalistischen und religiösen Herrschenden aufzeigen kann.