Gesundheits- & Sozialbereich: Ausbildung = Ausbeutung

Durch ordentliche finanzielle Absicherung könnte die Rate der Ausbildungsabbrüche gesenkt werden.
Ella Kempter

Prognosen gehen davon aus, dass bis 2030 in Österreich 72.900 Pflegende benötigt werden, im Sozialbereich sieht der Personalmangel ähnlich aus. Aber auch schon jetzt besteht ein Mangel, der es fast unmöglich macht, qualitativ gute Pflege für Patient*innen zu leisten. Das liegt daran, dass viele sich bereits nach durchschnittlich 6 Jahren aufgrund der katastrophalen Arbeitsbedingungen zu einem Berufsausstieg entscheiden. Ohne bei den Arbeitsbedingungen anzusetzen wird also eine Lösung des Problems unmöglich sein.

Auch dem Nachwuchs geht es schlecht in der Pflege: Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialbereich werden quasi schon während der Ausbildung auf die prekären Arbeitsbedingungen vorbereitet. Eine Pflegeausbildung zu beginnen ist für viele Jugendliche unattraktiv und auch die Rate der Ausbildungsabbrüche ist hoch. Warum ist das so und wie lässt sich das ändern? Warum ist beispielsweise die Ausbildung in der Pflege unbezahlt, während Polizist*innen 1.700 Euro brutto im ersten Ausbildungsjahr erhalten?

Ausbildung im Gesundheits- und Sozialbereich ist traditionell unbezahlt oder unterbezahlt trotz vieler Praxisstunden. Praktikant*innen werden vom System als unbezahlte Arbeitskräfte gebraucht. Im Kapitalismus gibt es immer den Druck, die Kosten für Reproduktionsarbeit (Pflege, Kinderbetreuung, Altenpflege etc.) möglichst gering zu halten. Das hängt damit zusammen, dass Pflege- und Sozialberufe im Kapitalismus frauendominiert sind. Frauendominierte Branchen wie Pflege und Sozialbereich, aber auch z.B. der Handel zeichnen sich durch miese Arbeitsbedingungen aus. Da die unbezahlte Reproduktionsarbeit, die Frauen im "Privaten" leisten im Zusammenhang mit der strukturellen Unterdrückung von Frauen in der kapitalistischen Klassengesellschaft steht, geht auch die Abwertung der bezahlten Reproduktionsarbeit damit Hand in Hand.

Pflege war in Europa lange von religiösen Orden dominiert. Die professionalisierte, also berufliche und öffentliche Pflege ist in Österreich noch nicht alt und die Organisierung von Pflegenden, die gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen und eine gute Ausbildung ihrer zukünftigen Kolleg*innen kämpfen können, auch nicht. Hartnäckig war und ist die Vorstellung, verbunden mit dem Frauenbild und der Darstellung der Kirche, dass Pflegekräfte ihre Arbeit aus Nächstenliebe machen sollen. Dieses ideologische Bild zieht sich auch heute noch in der Ausbildung durch. Es wird von Regierung und der herrschenden Klasse reproduziert, um sich Geld zu sparen: Für Pflegende sollten Bewunderung und Applaus ausreichend Lohn sein.

Die Regierung wird jedoch auch angesichts des Personalmangels im gesamten Gesundheits- und Sozialbereich stärker gezwungen, zu handeln. Immer wieder werden von der Regierung „Ausbildungsoffensiven“ im Pflegebereich angekündigt. Gemeinsam ist diesen, dass sie von oben gestaltet werden und sich nach dem Druck nach möglichst niedrigen Kosten richten müssen. Ein aktueller Plan der Regierung ist u.a. eine Pflegelehre, also eine Umstrukturierung der Ausbildung.

Die Pflegelehre ginge mit einer verkürzten Ausbildungszeit einher. Das bedeutet allerdings auch eine De-Qualifizierung der Pflege. Stattdessen wäre es notwendig, die Ausbildung zu entlohnen und mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Dann könnte auch die Ausbildungszeit je nach Bedarf verlängert werden. Grundsätzlich gilt für die allermeisten Ausbildungsberufe, dass es meistens mehr Zeit und weniger Druck bräuchte, um tatsächlich einen Beruf erlernen zu können.

Eines der größten Probleme bei der Ausbildung sind die unterschiedlichen Qualifizierungen und Berufe. Die Zersplitterung der Pflege in verschiedene Berufsgruppen und Ausbildungen ist oft ein Hindernis im Kampf für Verbesserungen. Auszubildende und Studierende werden gespalten und auf Hierarchien im späteren Beruf vorbereitet. Dass Mediziner*innen beispielsweise ihre Praktika bezahlt kriegen, liegt nicht daran, dass sie “härtere” Arbeit leisten, sondern an hierarchischen Strukturen im Gesundheits- und Sozialbereich. Diese Spaltungen hängen auch mit generellen Einkommensunterschieden, Ungleichheit im Bildungssystem und erschwerten Zugängen z.B. zum Medizinstudium zusammen. Viele Pflegeberufe, aber auch medizinische, könnten in einer gemeinsamen Ausbildung zusammengefasst werden. Daran gibt es aber in einem Gesundheitssystem, das hierarchisch, undemokratisch und nicht nach Bedarf organisiert ist, kein Interesse, auch weil das Spaltungen unter Beschäftigten aufheben würde.

Welche Form der Ausbildung sinnvoll wäre, welches Verhältnis von Theorie und Praxis und wie viele Jahre solche Ausbildungen bräuchten - all das wissen die Beschäftigten selbst am besten. Was daher notwendig ist, sind nicht nur konkrete Verbesserungen wie Bezahlung, mehr Personal, sondern auch eine grundlegende Umgestaltung der Ausbildung im Sozialbereich unter Kontrolle von Beschäftigten, Auszubildenden und Lehrenden sowie Patient*innenvertretungen. Es braucht ein grundlegend anderes Verständnis von Ausbildungen: Auszubildende dürfen keine “billigen” Arbeitskräfte sein, sondern müssen voll in den bezahlten Berufsalltag integriert werden, um gut lernen zu können.

 

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