Einmal Sozialstaat und zurück

Gedenkjahr 2005: Wie durch ein Wunder soll Österreich zur Insel der Seligen geworden sein. Das Wunder wurde allerdings von der ArbeiterInnenklasse des Landes bezahlt.
Harald Mahrer

Viele Menschen in Österreich sehnen sich nach der guten alten Zeit. Damals – so ab den 50er Jahren und erst recht in den 70ern – sei alles immer nur besser geworden. Die Kinder hatten mehr vom Leben zu erwarten als man selbst – und das war Grund zur Freude. Doch was ist mit der guten alten Zeit gemeint? Wer schuf den Wohlstand, wer profitierte von dieser Leistung und:  Warum konnte es nicht einfach so bleiben?

Wiederaufbau...

Die Versorgungslage verschlechterte sich nach Kriegsende dramatisch. Dies war vor allem dem Umstand zuzuschreiben, dass nunmehr keine von der Wehrmacht in besetzten Ländern geraubte Lebensmittel und Güter nach Deutschland bzw. Österreich gebracht wurden. Ohne diesen Raubzug, wäre die Versorgung bereits wesentlich früher zusammengebrochen. Das wesentliche Problem des Kapitalismus in Österreich zur damaligen Zeit war der massive Kapitalmangel. Kapital für den kapitalistischen Wiederaufbau musste also herbeigeschafft werden. Dies konnte nur durch eine drastisch erhöhte Ausbeutung erfolgen – sprich durch die Verhinderung „überzogener” Löhne. Die am Boden liegende österreichische Kapitalistenklasse konnte dies nur gemeinsam mit den Gewerkschaften durchsetzen: Die Sozialpartnerschaft war geboren. In fünf sogenannten Lohn-Preis-Abkommen wurden Löhne und Preise für Güter des täglichen Bedarfs – zuungunsten der ArbeiterInnenklasse - geregelt. Die arbeitenden Menschen, die ohnehin am stärksten von der schlechten Versorgungslage betroffen waren,  bezahlten auf diese Weise für den „Wiederaufbau” noch zusätzlich. So erreichte die Produktion pro Kopf der österreichischen Industrie bereits 1949 das Niveau von 1937, gleichzeitig blieben aber die Löhne noch das ganze Jahr 1951 etwa 18% unter dem Niveau von 1937.

... und Wirtschaftswunder

Was heute lediglich als gemeinsame Kraftanstrengung eines „fleißigen” Volks dargestellt wird, bedeutete in Wahrheit hohe Ausbeutungsraten und einem aufgezwungenen Konsumverzicht auf Seiten der ArbeiterInnenklasse, sowie beträchtliche Profiten auf Unternehmerseite. Darüber hinaus ist das „Wirtschaftswunder” auch äußeren Faktoren geschuldet, die an sich wenig mit der Arbeitsamkeit der österreichischen Bevölkerung zu tun hatten. Die wesentlichste Rahmenbedingung für das spätere Wirtschaftswunder stellte der nach dem zweiten Weltkrieg einsetzende weltweite und langfristige Wirtschaftsaufschwung dar. Nach den massiven Zerstörungen, die der Krieg hinterlassen hatte, ging es mit Hilfe von zumeist US-amerikanischem Kapital rasch aufwärts. Im Zuge des „Kalten Krieges” versuchten die USA ab 1947, Österreich in den Westen zu integrieren und pumpten rund 1,5 Milliarden US-Dollar (nach damaligen Preisen) in die Österreichische Wirtschaft. Die industrielle Basis für den Wiederaufbau des Kapitalismus in Österreich schuf schon das NS-Regime wesentlich unterstützt durch den Einsatz von ca. 700.000 ZwangsarbeiterInnen. Diese Industrien wurden zum größten Teil verstaatlicht, allerdings nicht mit dem Ziel eine alternative Wirtschaftsform aufzubauen, sondern im Wesentlichen um diese Industrieanlagen der Enteignung durch die Alliierten zu entziehen – privates Kapital zur Übernahme dieser Betriebe war schlicht nicht in ausreichendem Ausmaß vorhanden – und um den kapitalistischen Aufbau staatlich gelenkt zu subventionieren. Zwischen 1948 und 1951 flossen 32% der Marshallplan-Gelder in die VOEST, die durch staatlich niedrig gehaltene Stahlpreise den Aufbau der mittelständischen Privatwirtschaft subventionierte. Die zwischen 1950 und 1968 auf diesem Wege in die Privatwirtschaft gepumpten Mittel werden auf 8,5 Milliarden Schilling geschätzt. Damit waren die 3 Grundsäulen des „Wirtschaftswunders” geschaffen: Eine industrielle Basis, massive Kapitalzufuhr in Kombination mit der zunehmenden Integration in den aufstrebenden Weltmarkt und eine erhöhte Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse.

Der Sozialstaat

Ein zentraler Punkt in der Verklärung der „die guten, alten Zeit” ist der sogenannte Sozialstaat, der sich unter Federführung der Sozialpartnerschaft in den 1950ern zu entwickeln begann. Dies wird als Erfolgsgeheimnis des österreichischen Kapitalismus gepriesen. Ganz so sozial war diese Entwicklung nicht: Die Einkommen aus Besitz (Zinsen, Aktien, Vermietung, etc.) stiegen von 1960 bis 1997 auf das 12,5-fache, wären etwa die Reallöhne lediglich auf das 2,5-fache zulegten. Und ganz so partnerschaftlich kam all das auch nicht zustande.
Im Zuge der Lohn-Preis-Abkommen, den Vorläufern der verfestigten und institutionalisierten Sozialpartnerschaft, kam es zu massiven Auseinandersetzungen zwischen der österreichischen ArbeiterInnenklasse und dem politischen und wirtschaftlichen Establishment. Schon beim 3. Abkommen kam es zu einer Streikwelle, beim 4. Lohn-Preis-Abkommen kam es schließlich im Rahmen des Oktoberstreiks 1950 zum Showdown. Das österreichische Kapital war selbst noch zu schwach, um mit einem Generalstreik umzugehen und musste sich auf die rechten Führer der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften verlassen. Diese leisteten ganze Arbeit. Sie stilisierten die Auseinandersetzung zu einem „kommunistischen Putschversuch” hoch und mobilisierten Mitglieder vor allem der Bau-Holz-Gewerkschaft als gewaltsame Sturmtruppen gegen Streikende. 30 Jahre später schrieb Fritz Klenner, der Erfinder der „Putschthese”, „Diese These lässt sich nach heute aufgrund gewissenhafter Untersuchungen nicht aufrechterhalten.” Seiner – richtigen – Einschätzung nach, hätte ein Erfolg des Generalstreiks im Oktober 1950 nicht einen Putsch, sondern eine „radikal ausgerichtete Gewerkschaftspolitik” zur Folge gehabt. Damit fasst er prägnant zusammen, worum es in diesem Frühherbst des Jahres 1950 wirklich ging: Um die künftige – klassenkämpferische oder sozialpartnerschaftliche – Ausrichtung des ÖGBs. Die Niederlage der kämpfenden ArbeiterInnen machte den Weg frei für die anpasslerische und staatstragende Rolle des Gewerkschaftsbundes für die nächsten Jahrzehnte. Den vollen Preis für diese Niederlage sollten erst jene Generationen der ArbeiterInnenklasse bezahlen, die sich einer Situation des Niedergangs des Sozialstaats gegenüber fanden.
Lange Zeit konnten tatsächlich auf dem Verhandlungstisch noch Fortschritte für die ArbeiterInnenklasse errungen werden, auch wenn die Sozialpartnerschaft nicht, wie manchmal verkündet, die Klassengegensätze aufhob, sondern lediglich von der Straße in die Institutionen verlegte. Drei Faktoren waren für den damaligen „Erfolg” dieses System verantwortlich: Erstens ein langanhaltender Wirtschaftsaufschwung von den 1950ern bis in die 1970er-Jahre, der in vielen anderen europäischen Staaten – kombiniert mit einer kämpferischen Strategie - gewerkschaftliche Erfolge ermöglichte von denen auch die österreichische ArbeiterInnenklasse profitierte. Zweitens die Systemkonkurrenz, die es geopolitisch notwendig machte, entlang des eisernen Vorhangs im Westen einen hohen Lebensstandard zu garantieren. Und drittens die potentielle Stärke dieser österreichischen ArbeiterInnenklasse im Verhältnis zur noch immer relativ schwachen heimischen Bourgeoisie. Trotz aller Errungenschaften dieser Zeit blieb die Lohnentwicklung – bis auf wenige Ausnahmejahre – stets hinter der Produktivitätsentwicklung zurück.

Warum konnte es nicht einfach so weitergehen?

Mit Mitte 1970er Jahre begann die Weltwirtschaft zu stottern und damit auch die wirtschaftliche Entwicklung in Österreich. Waren die durchschnittlichen Wachstumsraten der österreichischen Wirtschaft von 1945 bis 1975 noch bei über 4%, liegen sie seit 1976 gerade noch über der Hälfte dieses Wertes - bei mageren 2,3%. Deutlichstes Zeichen der veränderten Bedingungen war und ist die strukturelle (Massen-)Arbeitslosigkeit ab dem Ende der 1970er, die seit dem ein wachsendes Problem darstellt. Die Lohnentwicklung brachte in den 1970ern zum einzigen Mal in der Nachkriegsgeschichte eine echte Umverteilung zugunsten der Lohnabhängigen – auch wenn die Lohnschere vor allem zu Lasten von Frauen weiter auseinanderging. Kreiskys Reformpolitik war – entgegen heutiger Verklärungen – ein Ergebnis einer in Wahrheit europäischen Entwicklung.  In den 70er Jahren hatte sich durch verschiedene Massenbewegungen (Frankreich 1968, Sturz der Militärdiktaturen in Portugal und Griechenland, ...) das Kräfteverhältnis auf internationaler Ebene zugunsten der ArbeiterInnenklasse verändert.

ArbeiterInnen sollten für Krise bezahlen

  Mitte der 1980er gingen dem gegenüber die Unternehmer in die Offensive: Die ArbeiterInnenklasse sollte verstärkt für die Folgen der kapitalistischen Krise bezahlen. Erstens Opfer war die Verstaatlichte. Eine Privatisierungswelle und damit einhergehend massiver Jobverlust und Abbau von sozialen Errungenschaften für die Restbelegschaften wurde von der großen Koalition unter Vranitzky eingeleitet und erste Sparpakete geschnürt. Das Kräfteverhältnisse in der österreichischen Gesellschaft begann sich zugunsten des Kapitals zu verändern. Eine durch die Sozialpartnerschaft lange künstlich aufgewertete und in weiterer Folge auch durch internationale Ereignisse und „Trends” (Zusammenbruch des Stalinismus, neoliberale Offensive, Europäische Integration/EU-Beitritt ...)  motivierte Bourgeoisie, fühlte sich plötzlich stark. Stark genug jedenfalls  um sich von einer kampfentwöhnten ArbeiterInnenklasse „zurückzuholen”  was sie in den Jahren des Aufschwungs „hergegeben” hatte: Die Verstaatlichte, gewerkschaftliche und soziale Rechte. All das traf nicht auf den notwendigen Widerstand der Gewerkschaften, deren Spitze weiter das „Gesamtwohl des Staates”, will heißen der Kapitalisten, vor die Interessen ihrer Mitgliedschaft stellte.  Während Massendemonstrationen gegen die Zerschlagung der VOEST, sowie massive Unmutsbekundungen gegen die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten (Samstagsöffnung und 8. Dezember) Kampfbereitschaft bewiesen, verzichtete die ÖGB-Bürokratie auf eine Neuorientierung und hielt sich an ihren Positionen im Staat fest. Was folgte war die Zerschlagung des Sozialstaats mittels zwei Sparpaketen in den 90er Jahren durch eine SPÖ-geführte Regierung. Die politische Frustration von Hunderttausenden ArbeitnehmerInnen nicht zuletzt hervorgerufen durch das Stillhalten der Gewerkschaften gegenüber den Sparpaketen machte die rechtsextreme FPÖ zeitweise zur stärksten Wahlpartei der österreichischen ArbeiterInnen. Schwarz-Blau markierte schließlich deutlich sichtbar das Ende der „2. Republik” – Sozialpartnerschaft und sozialstaatliche Bekenntnisse wurden quasi offiziell entsorgt.

Es gibt kein Zurück, aber ein „Vorwärts”!

Dass heute noch bei Umfragen die Sozialpartnerschaft gut abschneidet, hängt stark mit den Mythen zusammen, welche die ÖGB-Spitze selbst über diese verbreitet. Entscheidend ist allerdings, dass es kein Zurück zu dieser Zeit  gibt: Unternehmer und Regierungspolitik die heute versuchen Gewerkschaften mit ins Boot zu holen, planen immer Verschlechterungen für die ArbeitnehmerInnen!  Sozialpartnerschaftliche Konzepte kommen daher in Zeiten kapitalistischer Krise automatisch einer gewerkschaftlichen Kapitulation gleich: Die Liste von dem was alles in den letzten Jahren abgeschafft und gestrichen worden ist, gibt vor allem Aufschluss darüber, dass ohne Widerstand einfach weiter gemacht wird. Die Massenstreiks vor allem 2003 (über 10.000.000 Streikstunden!) haben allerdings auch bewiesen, dass es prinzipiell anders gehen könnte und dass die „gute, alte Zeit” endgültig vorbei ist. Neben der nötigen Konsequenz der Gewerkschaften mit der sozialpartnerschaftlichen Vergangenheit wirklich zu brechen, fehlen allerdings bis heute auch politische Alternativen der ArbeiterInnenbewegung.  Die SLP kämpft deshalb – leider als derzeit einzige politische Kraft in Östererreich – für eine neue ArbeiterInnenpartei. Ausgestattet mit einem sozialistischen Programm könnte eine solche Partei der neoliberalen Logik tatsächlich etwas entgegenstellen und den österreichische Kapitalistenklasse herausfordern.

Quellen:

“Mythos Wirtschaftswunder und Aufbaugeneration: ‚Wir haben es aus eigener Kraft geschafft', Projekt “Mythen der Ökonomie” des Beirats für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitsche Alternativen (BEIGEWUM), auf http://no-racism.net/article/994/

“Die langfristige Entwicklung der Einkommensverteilung in Österreich”, Alois Guger, Markus Marterbauer, WIFO, in Sozialbericht 2003-2004, Sozialministerium, auf www.bmsg.gv.at

“1950 - Der große Oktoberstreik. Putsch oder Aufstand der österreichischen ArbeiterInnen? Die Lehren aus einer schmerzlichen Niederlage.”, Sozialistische LinksPartei, Wien, 2000, Bestellungen auf www.slp.at möglich.

Erscheint in Zeitungsausgabe: