80 Jahre Oktoberrevolution. Teil II

Zwischen Bürgerkrieg und Weltrevolution
John Evers

“Nicht Verschwörer stürzten die bürgerliche Regierung...Die Legende vom Putsch der Bolschewiki hält der Berührung mit der geschichtlichen Realität nicht stand...Die Bolschewiki gelangten zur Macht, weil sie von Anfang an dem Bürgertum ablehnend gegenüberstanden, sich auf die Organe der Massen, die Sowjets, stützten” (der österreichische Sozialdemokrat Josef Hindels 1980).
Josef Hindels über die unmittelbaren Ursachen, die die Bolschewiki an die Macht brachten: “Menschewiki und Sozialrevolutionäre verloren an Boden, die Bolschewiki wurden zur Mehrheitspartei in den Sowjets. An Spitze der Regierung stand Kerenski, der das ... vor dem Weitertreiben zitternde russische Bürgertum verkörperte. Er wollte ein bürgerlich-liberales Rußland, aber ohne Bruch mit dem Feudalismus...Die Enttäuschung über Kerenski und die ihn stützenden nichtbolschewistischen Parteien war grenzenlos”.

Ziele & Politik der Bolschewiki

Der Oktoberumsturz bedeutete eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses auf nationaler wie internationaler Ebene nach links. Für die Bolschewiki war die russische Revolution der erste Schritt zur Weltrevolution. Sie wollten die ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse - gestützt auf die Bevölkerungsmehrheit - grundlegend ändern. Demgegenüber standen nach 1917 die Niederlagen der revolutionären ArbeiterInnenbewegung Westeuropas, die Rückständigkeit Rußlands und der blutige Bürgerkrieg. Die Entstehung der ArbeiterInnen-, Bauern- und Soldatenräte war der wichtigste Punkt in der Revolution 1905 und nach der Februarrevolution (wie in allen anderen Revolutionen Europas), als Kampf- und Selbstverwaltungsorgane der Massen. Im Gegensatz zum bürgerlichen Parlamentarismus bedeutet die Rätedemokratie die direkte Einbeziehung der ArbeiterInnenklasse ins politische Leben, in Entscheidungen und in die Kontrolle der Produktion. Geheimdiplomatie gab es ebensowenig wie Privilegien für die demokratisch gewählten FunktionärInnen. Der allrussische Sowjetkongreß hatte nach dem Oktoberumsturz eine von Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären gestützte Regierung gewählt. Die Wahlen zur konstituierenden Versammlung im Jänner 1918 hatten eine Mehrheit für die Parteien, die diese Regierung stützten, ergeben. Die Sozialrevolutionäre waren aber seit Sommer 1917 in zwei Parteien gespalten - ein Umstand, der sich nicht auf den Wahllisten ausdrückte. Die Sozialrevolutionäre wurden von den armen Bauern gewählt und deshalb stärkste Partei. Aufgrund der veralteten Listen erhielten die Mandate aber vor allem Vertreter der rechten Abspaltung. Diese votierten gemeinsam mit den anderen nichtrevolutionären Parteien gegen die Sowjetregierung, worauf diese die Konstituante auflöste. „Die Masse reagierte auf die Auflösung der Konstituierenden Versammlung nicht. Die Bolschewiki hatten längst Dekrete über Boden und Frieden erlassen, so daß die Konstituierende Versammlung keine bessere Lösung hätte bieten können ... Auch hatten die gemäßigten Sozialisten in der Zeit von März bis November 1917 gezeigt, daß sie keine Alternative zu bieten hatten und die Massen nicht hinter ihnen standen. Es könnte daher scheinen, als ob der Bolschewismus die Lösung für die Krise war.“ (G.Schomaekers)
Das Ergebnis der parlamentarischen Wahlen war von den realen politischen Entwicklungen in jeder Hinsicht bereits überholt worden.
„Fast widerstandslos löste die Räteregierung die Nationalversammlung auf; in einem nahezu drei Jahre dauernden Kampf gegen die weißen Armeen und Interventionstruppen aller europäischen Großmächte setzte sie sich schließlich durch. Ihr Sieg war ein Sieg der Theorien, Traditionen und Zielvorstellungen der europäischen Arbeiterbewegung“ (W.Abendroth).

Das Volk setzt die Revolution um

Folgende Dekrete wurden zwischen Oktober und Dezember 1917 beschlossen (Auswahl):

  • Frieden - sofortiges Friedensangebot an alle Staaten
  • Grund und Boden - Landreform, Enteignung der Großgrundbesitzer
  • Einführung des 8-Stundentags
  • Deklaration der Rechte der Völker Rußlands - Souveränität und Selbstbestimmungsrecht
  • Gründung der staatlichen Kommission für Volksbildung
  • Arbeiterkontrolle in der Produktion
  • Gerichte auf Grundlage demokratischer Wahlen
  • Nationalisierung der Banken
  • Ehescheidung

Waren diese Dekrete bürokratische Akte von oben? Am Beispiel Nationalisierung kann abgelesen werden, daß unmittelbar nach der Revolution die Sowjetpolitik direkt die Bedürfnisse der Massen ausdrückte: Von November 1917 bis März 1918 wurden rund 830 Unternehmen nationalisiert. In nur fünf Prozent der Fälle geschah dies auf Grund von Weisungen durch die Zentrale. Mindestens drei Viertel der Fabriken wurden durch die Arbeiter bzw. durch Fabrikkomitees, die sich vor und nach der Oktoberrevolution gebildet hatten, vorort vergesellschaftet.

Weißer Terror im Bürgerkrieg

Im Verein mit den wichtigsten imperialistischen Mächten, unterstützt von den “revolutionären” Menschewiken und rechten Sozialrevolutionären, entfesselten rechtsextreme Generäle den Bürgerkrieg im Sommer 1918. In den folgenden zwei Jahren wurde die junge Sowjetdemokratie fast von außen gestürzt. “Je größer der Terror, desto größer unsere Siege. Wir müssen Rußland retten, selbst wenn wir es halb in Brand setzen und das Blut von drei Viertel aller Russen vergießen müssen”, meinte der „weiße“ General Kornilow (er versuchte die Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse 1917 zu verhindern). Der weiße Terror war sowohl von der Methodik wie der Dimension nur mit dem Terror der Nazis 25 Jahre später vergleichbar: Vierteilen, Verbrennen bei lebendigem Leibe, alle bekennenden KommunistInnen wurden bei Gefangennahme erschossen, Massenhinrichtungen, Vergewaltigung als Kriegsmittel und (oft antisemitische) Hetzkampagnen gegen Minderheiten. Vor allem die Ukraine wurde Schauplatz grausiger Pogrome, deren Gesamtopferzahl auf 150.000 geschätzt wird. Dort, wo die Weißen hinkamen, schafften sie existierende Sowjets ab, errichteten eine Militärdiktatur und stellten das Privateigentum an Produktionsmitteln und Land wieder her.

Die Antwort der Bolschewiki

Die Gründung der Roten Armee unter der Führung Trotzkis war die wichtigste Maßnahme. Im “Inneren” wurde die Sowjetrepublik durch die Politik des “Kriegskommunismus” zu einer “belagerten Festung”. Zu-nächst ging man mit zaristischen Generälen, die die Waffen erhoben hatten, sehr großzügig um: Sie wurden gegen Ehrenwort entlassen. Nachdem der weiße Terror voll entbrannte, änderten sich die Methoden. Demokratische Rechte der Gegner wurden massiv eingeschränkt, eine harte Disziplin, die Todesstrafe, Lager und eine Geheimpolizei eingeführt. Gleichzeitig holte sich die Front, was sie brauchte, von den Bauern. Den Gipfelpunkt dieser Maßnahmen stellte das Verbot anderer “Sowjet”- Parteien 1920 dar. Dem folgte 1921 das Verbot von Fraktionen innerhalb der Bolschewiki - mit Zustimmung aller Strömungen in der Partei. Lenin und Trotzki waren der Meinung, daß man in einer Situation in der die ArbeiterInnenklasse selbst de facto in Aulösung war, die Einheit der Partei unter allen Umständen bewahren mußte. Selbst wenn man sich vor Augen führt, daß Sozialrevolutionär Kerenski 10.000 Bolschewiken vor der Oktoberrevolution einsperren ließ, auch andere Vertreter nichtbolschewistischer Sowjetparteien vorher Terroranschläge auf Lenin und mehrere führende Bolschewiki verübten, sind beide Verbote (Sowjetparteien und Fraktionsverbot) höchst problematische Maßnahmen. Sie waren zwar wirksam gegen die Konterrevolution, gingen aber an die politische Substanz des ArbeiterInnenstaates und gaben der Bürokratie Auftrieb. Niemand wußte das besser als Lenin und Trotzki selbst: Die Maßnahmen vor allem von 1920 und 1921 standen im Gegensatz zu dem, wofür beide ihr Leben lang gekämpft hatten und zudem, was Lenin und Trotzki auch später politisch umzusetzen versuchten.

Was war die Alternative?

Revolution oder Konterrevolution - so stellte sich die Frage aus Sicht der Bolschewiki nicht nur in Rußland, sondern international. Dort, wo Bewegungen versuchten, den Kapitalismus zu stürzen, taten sie das in Bezugnahme auf die Oktoberrevolution. „Wir stehen an der Schwelle zur Weltrevolution“, schrieb Lenin 1917. „Ganz Europa ist vom Geist der Revolution erfüllt ... Die ganze wirtschaftliche, soziale, politische Ordnung wird von der Masse der Bevölkerung von einem Ende Europas zum anderen in Frage gestellt ... Wenn Deutschland an die Spartakisten übergeht ... wird ganz Osteuropa in den Wirkungsbereich der Bolschewistischen Revolution gerissen werden“ (der britische Ministerpräsident L.George 1919). Tatsächlich bildeten sich Räterepubliken in Deutschland, Finnland und Ungarn. In Frankreich kam es zu spontanen Anti-Kriegskundgebungen, der Zerfall der Donaumonarchie bedeutete auch Revolution in Österreich. Im Gegensatz zu Rußland gab es im Westen allerdings keine mit den Bolschewiki vergleichbare Partei. Die sozialdemokratischen Organisationen behielten die Kontrolle über die Arbeiter-Innenklasse und verhinderten den Sturz der kapitalistischen Ordnung. In Deutschland war die sozialdemokratische Führung um Ebert und Noske für die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verantwortlich. Für Österreich stellte der Sozialdemokrat Otto Bauer später fest, daß 1918 „nur Sozialdemokraten“ die Massen von „revolutionären Abenteuern“ abhalten konnten. Die Niederlage der Revolution im Westen führte in vielen europäischen Ländern zum Erstarken, später vielfach zur Machtübernahme der Faschisten. Eine Niederlage der Sowjetrepublik im Bürgerkrieg hätte wohl ebenfalls schnell einen „russischen Hitler“ an die Macht gebracht.

Kronstadt 1921

Der Kronstädter Aufstand fand in einer der bedrohlichsten Zeiten für die junge Sowjetrepublik statt. Der Bürgerkrieg ging gerade zu Ende. Niemand konnte allerdings sagen, ob es sich nur um einen zeitweiligen oder dauerhaften Waffenstillstand handelte. Im Inneren: Völlige Zer-rüttung, Hungersnot und plündernde Banden. Aufstände wie in Kronstadt ereigneten sich vielerorts. Bekannt wurde diese Episode dadurch, weil Kronstadt bei Ausbruch der Revolution 1917 eine wichtige Rolle gespielt hatte. Zwei prominente Anarchosyndikalisten haben unserer Meinung nach den Charakter des Kronstädter Aufstandes treffend zusammengefaßt:
“Räumt man selbst ein, daß die Erhebung das Werk von Arbeitern und Matrosen war, die völlig unabhängig, auf eigene Initiative und ohne Verbindung zu Konterrevolutionären handelten, so muß man zugeben, daß vom ersten Moment der Erhebung an alle Feinde der Bolschewiki zusammenströmten ... Die ausländische Presse jubelte ... sie war am Programm der Rebellen nicht interessiert, aber sie begriff, daß die Revolte zusammenbringen konnte, was die verbündete Bourgeoisien nicht geschafft hatten ... den Sturz des Regimes...Woher kam die Losung Sowjets ohne Bolschewiki? Es läßt sich nicht genau feststellen, aber sie war geeignet alle unter einen Hut zu bringen, alle Gegner des Regimes” (Rosmer).
Aber was wäre so schlimm daran gewesen, wenn die Hauptforderung des Aufstandes, “Sowjets ohne Bolschewiki”, zum damaligen Zeitpunkt verwirklicht worden wäre? Dazu Victor Serge: “Eine 3. Revolution (Nach Februar- und Oktoberrevolution, Anm. JE)...sagten einige Anarchisten die mit kindlicher Illussion vollgestopft waren. Allein, das Land war völlig erschöpft ... Die Elite des Proletariats war ... buchstäblich dezimiert...Wenn die Diktatur fiel bedeutete das in Kürze das Chaos, Massaker an den Kommunisten...und am Ende eine andere, antiproletarische Diktatur...Wir wußten, daß es alleine im europäischen Rußland an die 50 Herde bäuerlicher Aufstände gab... Unter diesen Bedingungen mußte die Partei einräumen, daß das wirtschaftliche Regime unerträglich sei. Aber sie konnte die Macht nicht aufgeben.” (aus „Kronstadt“, ISP)

Neue ökonomische Politik

Die “Neue Ökonomische Politik” war die Maßnahme, mit der die Bolschewiki versuchten, gegen das „unerträgliche wirtschaftliche Regime“ anzukämpfen. Sie war auf der einen Seite ein Rückzugsgefecht, eine Reaktion auf die internationale Isolation, in dem man einige marktwirtschaftliche Reformen einführte und Auslandskapital ins Land ließ. Vor allem die Bauern sollten so zufrieden gestellt werden. Man erhoffte sich aber gleichzeitig industriellen Aufbau - und damit eine politische Stärkung durch ein so entstehendes starkes Proletariat. Mit Einführung dieser NEP enstand eine “neue” bürgerliche Schicht in der Gesellschaft. Gleichzeitig hatte der Bürgerkrieg die besten Kräfte des sowjetischen Staatsapparates und die ArbeiterInnenklasse als solche aufgerieben. In das Vakuum in der Verwaltung und der Gesellschaft drangen bürgerliche Spezialisten, viele noch aus dem alten zaristischen Staat. Bürokratismus und Privilegienwirtschaft wucherten üppig in der Situation des Mangels. Trotzki schrieb später über die Quelle der Bürokratie: Wo es Mangel gibt, muß einer verteilen. Und wer verteilt, ist selbst selten zu kurz gekommen. Der Mangel und damit die Quelle der Bürokratie war tatsächlich vielfältig: Es fehlte an allem: Vom täglichen Brot bis zum “know how” in der Industrie. Politisch begünstigt durch die Bürokratie, wuchs der kapitalistische Sektor der Sowjetrepublik stärker als ihr “sozialistischer”. Diese zunehmende wirtschaftliche Dominanz schlug sich wiederum politisch nieder: “Kulak” und “Bürokrat” wurden Hand in Hand in allen Bereichen stärker. Beide Kräfte hatten - sozial wie politisch - ihre Wurzeln außerhalb der Bolschewiki und drangen zunehmend in die Partei ein.

“Die Sowjetunion ist ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen.” (Lenin, Werke Bd.32).

Einer der ersten, der die Gefahr der Bürokratie analysierte und spätestens ab 1922 - wenn auch schon physisch und politisch ohnmächtig - bekämpfte, war Lenin selbst. Er schlug eine Reihe von Maßnahmen vor (z.B. in den Briefen an den Parteitag 1922) und bot auch Trotzki einen innerparteilichen Block gegen die Bürokratie an: In seinem - später unterdrückten - Testament forderte er relativ weitblickend die Absetzung Stalins. Denn eben dieser Stalin wurde später zum Sprachrohr und Vertreter der Bürokratie in der Partei.
Lenins Tod war für die weitere Entwicklung nicht ausschlaggebend, aber sicher nicht ohne Einfluß, wie am Beipiel des “Lenin-Aufgebots” gezeigt werden kann. Am ersten Parteitag nach Lenins Tod im Mai 1924 hatte sich die Mitgliedschaft auf 736.000 verdoppelt. Diese 350.000 neuen Mitglieder waren Männer und Frauen der Bürokratie - das Fundament, auf dem Stalin seine späteren Siege aufbaute. Außen- und innenpolitisch schlug das Pendel ebenfalls nach rechts aus: 1923 war die deutsche Revolution vorläufig niedergeschlagen. In breiten Schichten der russischen Bevölkerung wollte man nach den Jahren des Bürgerkriegs endlich zu Ruhe und Ordnung kommen. In dieser Situation war es für Stalin möglich, sich vom ehemaligen Ziel der Bolschewiki - der internationalen Revolution - zu verabschieden und den “Aufbau des Sozialismus in einem Land” zu verkünden.
„Dieser Kurs der bürokratischen `Bolschewisierung` hatte zwar sehr wenig mit den Theorien zu tun, die einst Lenin über Struktur und Willensbildung der revolutionären Partei entwickelt hatte. Aber er entsprach gewissen Tendenzen ... die sich aus der Isolation der Sowjetunion ergaben. Die Einparteienherrschaft war ... nicht aber ein Ziel, das sich aus der bolschewistischen Theorie ableitete.“ (W.Abendroth, Sozialgesch.)

Linke Opposition

Die Linke Opposition Trotzkis nahm ab 1923 den Kampf in der Partei auf. Ihr Programm stellte die logische Fortsetzung der bolschewistischen Linie dar:

  • Stärkung des Proletariats durch Industrialisierung
  • Damit verbunden Zurückdrängen des privaten (Industrie) - Sektors, Wiedereinführung der Arbeiterdemokratie und Kampf gegen die Bürokratie
  • Orientierung der Außenpolitik auf die internationale Revolution

Gegen die Linke Opposition wurde eine Verleumdungskampagne losgetreten: “Abenteurer und Bauerfeinde” waren der Beginn dieser Kampagne die mit Schauprozessen endete. Mit der späteren Liquidierung von Trotzki und zehntausender KommunistInnen wurde die bolschewistische Tradition defacto vernichtet.

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