Mi 28.03.2007
"Wer hätte gedacht, daß die Internationale in vier Pferdewagen Platz hat?" Es ist ein bitterer Scherz, den der 37jährige russische Revolutionär Leo Trotzki macht, in einer Pferdedroschke auf der Fahrt den Berg nach Zimmerwald hinauf. Die 38 Delegierten aus elf Ländern, die sich da an einem klaren, eisigen Herbsttage 1915 in der Nähe von Bern treffen, sind mehr als eine der um diese Jahreszeit üblichen Ausflugsgesellschaften.
Angelica Balabanoff erzählte mir, als ich sie im Sommer 1949 in Rom besuchte, einiges über die internationale Sozialistenkonferenz 1915 gegen den imperialistischen Weltkrieg. Die großen sozialdemokratischen Parteien Europas waren umgefallen, hatten für die Kriegskredite gestimmt und rechtfertigten das Massenmorden. Rosa Luxemburg war in einem deutschen Gefängnis. In ganz Europa wüteten der Terror und die Zensur der Militärdiktaturen. Gegen diesen nationalistischen Taumel versammelten sich nun linksoppositionelle Delegierte - unter ihnen Lenin und Trotzki - aus elf Ländern im schweizer Dorf Zimmerwald bei Bern.
Angelica Balabanoff war an der Vorbereitung und Durchführung maßgeblich beteiligt. Sie war als junge russische Revolutionärin zur Jahrhundertwende nach Westeuropa gekommen und in der Arbeiterbewegung aktiv. Sie hielt ihren ersten marxistischen Vortrag 1902 in einem deutsch-österreichischen Bildungsverein in St. Gallen vor italienischen Saisonarbeitern, trat der Auslandsorganisation der Partito Socialista Italiano (PSI) in der Schweiz bei, wo sie an der Zeitung Avvenire del Lavoratore mitarbeitete. Nach der ersten Russischen Revolution 1905 sprach sie in Massenversammlungen in Mailand, Turin, Rom, Triest und Bologna. Wegen "Gotteslästerung" wurde sie in Wien in Abwesenheit zu drei Monaten schweren Kerker und Ausweisung verurteilt. 1907 nahm sie in Stuttgart am internationalen Sozialistenkongreß teil, wo die Antikriegsresolution beschlossen wurde, die dann 1914 im nationalistischen Rausch von den meisten sozialdemokratischen Parteiführungen "vergessen" wurde. Angelica Balabanoff wirkte als Vertreterin der PSI im Büro der Sozialistischen Internationale und war in häufigem Kontakt mit Viktor Adler, August Bebel, Jean Jaurès, Rosa Luxemburg und Lenin.
Gegen die Sturmflut des Chauvinismus organisierten die Sozialistischen Parteien der Schweiz und Italiens schon am 27. September 1914 eine erste internationale Konferenz nach Beginn des Ersten Weltkrieges. Das Treffen fand unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen in Lugano statt und war Auftakt zur Zimmerwalder Konferenz. Diese appellierte an die Sozialisten aller kriegführenden Länder, "dem Völkermord ein rasches Ende zu setzen".
Angelica Balabanoff wurde Sekretärin der "Zimmerwalder Bewegung". Sie fuhr 1917 in das revolutionäre Rußland, im Gefolge Lenins, der sie mit einer Propagandamission in Schweden betraute. 1919 nahm sie am Gründungskongreß der Dritten Internationale teil, fungierte als deren erste Sekretärin, distanzierte sich jedoch früh von den bürokratischen Methoden. 1920 entschloß sie sich, mit der Delegation der italienischen Kommunisten die Sowjetunion zu verlassen. Aus persönlicher Wertschätzung für Lenin blieb sie bis 1924 Mitglied der Bolschewistischen Partei. Unmittelbar nach Lenins Tod veröffentlichte die Prawda 1924 den "Ausschluß der Balabanowa". Von all dem sprach mir Angelica in diesem Sommer 1949 und überreichte mir zur Erinnerung ihre in mehreren Sprachen verfaßten Gedichte: "Human tears", lagrime umane", "menschliche Tränen", "larmes humaines", "slesij liudskie".
Zur Zimmerwalder Konferenz schrieb sie in ihren Erinnerungen: "Auf den Trümmern der Internationale, die bei Ausbruch des Krieges nicht nur politisch versagt hatte, sondern auch ideologisch den Klassenkampf aufgab und den Burgfrieden zur Richtschnur des sozialistischen Denkens und Handelns erhob, war Zimmerwald entstanden. ... Den Proletariern wie den Gegnern zu beweisen, daß der Internationalismus keine Utopie sei, war das erste Grundlegende, aus dem sich alles andere Konkrete, Praktische erst ergeben sollte." Angelica Balabanoff starb 1965 in Rom.