Di 16.06.2015
Der 7. Juni hat die politische Landschaft in der Türkei durcheinander gewirbelt. In der Wahlnacht fühlten sich viele linke und kurdische AktivistInnen wie zur Zeit der Gezi Park-Bewegung im Sommer 2013. Die regierende rechts-konservative und islamische AKP erlitt eine heftigere Niederlage als die meisten Prognosen vorausgesagt hatten. Im Vergleich zu den letzten Wahlen von 2011 verlor sie 2,6 Millionen WählerInnen und 69 Abgeordnete. Die linke, pro-kurdische „Demokratische Partei des Volkes“ (HDP) kam auf 13 Prozent der Stimmen und damit über die Hürde von zehn Prozent, die für den Einzug ins Parlament nötig sind. Bei dieser Zehn-Prozent-Hürde handelt es sich um eine zutiefst antidemokratische Maßnahme, die nach dem Militärputsch von 1980 eingeführt worden ist, um gerade kurdischen Parteien daran zu hindern, parlamentarisch vertreten zu sein.
Vor allem in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei kam es zu spontanen Kundgebungen und Freudenfesten, mit denen der Durchbruch der HDP bei den Wahlen gefeiert wurde. Es ist das erste Mal in der türkischen Geschichte, dass eine pro-kurdische Partei den Sprung ins Parlament geschafft hat. Angesichts der Tatsache, dass das politische System der Türkei traditionell von alten, rechtslastigen Männern dominiert wird, hat auch der nun stattfindende Eintritt vieler weiblicher HDP-Aktivistinnen sowie zahlreicher VertreterInnen sozialer und politischer Bewegungen und unterschiedlicher Minderheiten eine hohe symbolische Bedeutung. Tatsächlich gehören etliche der 80 neuen ParlamentarierInnen der HDP ethnischen, gesellschaftlichen oder religiösen Minderheiten an. Ihre Anwesenheit im türkischen Parlament ist ein Schlag gegen die nationalistische und reaktionäre Elite des Landes – genau wie der Umstand, dass zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik ein bekennender Schwuler für das Parlament kandidiert hat.
Die Wahl war auch durch ein gestiegenes Maß an Polarisierung gekennzeichnet. So legte die rechtsextreme und nationalistische MHP zu und kam von ehedem 13 Prozent auf nun über 16 Prozent. Während des Wahlkampfes kam es immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen, die sich vor allem gegen die HDP richteten. Aus allen Landesteilen gibt es Berichte von Dutzenden Angriffen auf HDP-Büros und physische Übergriffe auf ihre Aktiven.
Die MHP heizte den türkischen Nationalismus an und beschuldigte vor allem die AKP (wegen des Friedensprozesses mit der kurdischen Bewegung) als „Verräter“. Aber auch die populistische Karte wurde von den Rechtsextremisten der MHP gespielt. Neben ihrem Nationalismus forderten sie die Anhebung des Mindestlohns, eine Senkung der Mineralölsteuer und den Stopp von Entlassungen im öffentlichen Dienst. Das ist übrigens auch ein kleiner Hinweis darauf, dass soziale Themen wichtiger geworden sind, was an den Problemen liegt, die die türkische Wirtschaft hat und an der Sorge um den eigenen Arbeitsplatz.
Wundenlecken der AKP
Die aktuelle soziale und wirtschaftliche Lage spielte bei dieser Wahl eine entscheidende Rolle. In der Türkei hatten viele Menschen das Gefühl, dass ihr Lebensstandard gestiegen ist, seit die AKP das Land regiert. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, weshalb ein Teil der verarmten Schichten in der Türkei – vor allem diejenigen, die in der AKP-Kampagne zum Ziel für Wohlfahrtsgeschenke auserkoren worden sind – über Jahre hinweg weiterhin diese Partei gewählt haben.
Dies hat sich aufgrund einer verheerenden wirtschaftlichen Situation in den letzten zwei Jahren jedoch geändert. Die Erwerbslosigkeit hat ebenso zugenommen wie die Inflation und Millionen von Familien aus der Arbeiterklasse haben mit immer größeren Problemen zu kämpfen. Zusammen mit dem härteren Vorgehen gegen demokratische Rechte und einer verstärkt autokratischen Tendenz des Regimes (Ausweitung der Polizeibefugnisse, Angriffe auf gewerkschaftliche Rechte, Verhaftung von regimekritischen JournalistInnen und AktivistInnen, Abschaltung sozialer Netzwerke etc.) hat das dazu geführt, dass sich eine ganze Schicht von ehemaligen StammwählerInnen der AKP von ihrer Partei entfremdet hat.
Das zeigt sich daran, dass der Versuch von Präsident Erdogan, über eine absolute Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten im Parlament eine Verfassungsänderung herbeizuführen (womit er sich selbst mit noch größeren Machtbefugnissen ausstatten wollte), nach hinten losgegangen ist. Nicht nur, dass dieses Vorhaben gescheitert ist, auch die relative Mehrheit, die die AKP bis dato im Parlament hatte, ist nun verloren. Die Partei kam nur noch auf 41 Prozent der Stimmen. Damit bricht nun einer Phase an, die von politischer Instabilität und Unsicherheit gekennzeichnet ist, insbesondere in Bezug auf die Regierungsbildung.
Der Sieg der HDP
Für die Linke – und für all jene, die sich so sehr eine bessere Gesellschaft wünschen, für die sie auch kämpfen – eröffnet der ganz bemerkenswerte Wahlerfolg der HDP eine Reihe von Möglichkeiten. Seit den Wahlen wird nur noch von der HDP gesprochen.
Bei der HDP handelt es sich um ein Bündnis aus linken Gruppen, Parteien und Einzelpersonen. Der Kern dieses Zusammenschluss kommt ursprünglich aus der kurdischen Bewegung. In den letzten Monaten hat es die Parteiführung vermocht, viele AktivistInnen aus den unterschiedlichen sozialen und politischen Bewegungen zusammenzubringen. Unter anderen sind KampagnenführerInnen aus der LGBT-Bewegung (Homo-, Trans- und Bisexuelle) oder der Umweltbewegung dabei. Die kurdische BDP (der politische Arm der verbotenen PKK) bleibt zwar die dominierende Kraft innerhalb der HDP. Und dennoch interessieren sich auch immer mehr türkische WählerInnen für diese Partei. Sie sind zu der Schlussfolgerung gekommen, dass die AKP unter Erdogan und die größte Oppositionspartei, die CHP, keine Alternative für sie darstellen. Die große Mehrheit der HDP-Wählerschaft besteht aus ArbeiterInnen, RentnerInnen, Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie jungen Menschen, von denen viele durch die wichtigen Kämpfe von ArbeiterInnen und jungen Leuten, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, radikalisiert worden sind. Dabei ging es unter anderem um bessere Arbeitsbedingungen, gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse, für demokratische Rechte. Viele AktivistInnen der HDP sehen sich selbst als SozialistInnen oder KommunistInnen.
Neben weiteren wichtigen Forderungen steht die HDP für ein besseres Gesundheitssystem, ein stärker vom Staat unterstütztes Bildungssystem, die Anhebung des Mindestlohns auf 1.800 türkische Lira im Monat und die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Zwar forderten alle anderen Parteien wesentlich weniger, doch die Tatsache, dass die HDP diese sozialen Themen in die öffentliche Debatte eingebracht hat (obgleich die Parteipropaganda gar nicht davon dominiert worden ist), zwang die anderen Parteien, sich zu diesen Fragen ebenfalls positionieren zu müssen.
Insgesamt legten die führenden VertreterInnen der HDP ihre Betonung auf viel abstraktere Dinge wie „Durchbruch für die Demokratie“, „radikale Demokratie“, „große Menschlichkeit“. Parallel dazu setzten sie sich für die Rechte nationaler Minderheiten, der LGBT-Community etc. ein. Sie versuchten auch an den religiösen Empfindungen einer Schicht der Bevölkerung anzuknüpfen. Figen Yüksegdag, Ko-Vorsitzende der HDP, sprach in einer ihrer Reden am Ende des Wahlkampfes über die Korruption der führenden AKP-Politiker und meinte, dass Korruption eine „Beleidigung für den Islam“ ist.
Wenn man sich den Vorstand der HDP ansieht, so wird nicht ganz klar, was sie tatsächlich wollen. Vor dem Hintergrund, dass die Partei hinsichtlich der sozialen und politischen Herkunft ihrer Mitglieder alles andere als homogen ist, ist das natürlich nachvollziehbar. Kann die HDP aber zu einer neuen Arbeiterpartei werden oder wird sie sich zu einer nur noch leidlich linken und mehr liberalen Partei entwickeln, die nur noch mit den „Grünen“ in vielen Ländern Europas zu vergleichen ist?
Weltweit spitzt sich die Krise des Kapitalismus immer mehr zu. Und die Türkei bildet da keine Ausnahme. ArbeiterInnen und junge Leute sehen harten Zeiten entgegen. Will man die demokratischen Rechte verteidigen und für gesellschaftliche Verbesserungen kämpfen, so braucht es dafür eine kämpferische Partei, die in der Arbeiterklasse verankert ist, eine Partei, die starke Verbindungen zu den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen unterhält. Diese Partei muss Parlamentsabgeordnete haben, die das Parlament als Bühne nutzen, von der aus sie die Kämpfe der abhängig Beschäftigten verteidigen.
Wenn die Abgeordneten der HDP die erste Plenarsitzung sozusagen zu ihrer Startrampe für eine entschlossene Kampagne machen, mit der ihre gesellschaftspolitischen Forderungen umgesetzt werden soll (Anhebung des Mindestlohns, 35-Stunden-Woche, Abschaffung der Gesetze zur Einschränkung von Streiks etc.), dann können sie damit die Aufmerksamkeit und den Respekt vieler ArbeiterInnen und jungen Leute überall im Land auf sich ziehen. Das wäre auch ein Beitrag, um die traditionell-„kemalistische“ CHP wie auch die rechtsextreme MHP bloßzustellen, die in ihren Wahlprogrammen zwar auch einen höheren Mindestlohn forderten, aber nicht bereit sind, dafür auch zu kämpfen.
Eine neue linke Arbeiterpartei, die für Arbeitnehmerrechte einsteht und energische soziale Forderungen aufstellt, hätte in der Türkei große Möglichkeiten. Zehntausende ArbeiterInnen und junge Leute setzen große Hoffnungen in die HDP. Sie erwarten, dass sie ihre Rolle spielt. Es ist möglich, dass viele neue Leute jetzt auf die Idee kommen, der HDP beizutreten.
Bislang sind viele WählerInnen in der Türkei der HDP noch feindlich gesonnen. Einige betrachten die HDP als taktisches Manöver der PKK, als Partei, die von alten PKK-Kadern beherrscht wird und in der die wichtigen Entscheidungen vom inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan und dem Vorstand der HDP gefällt werden. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, weshalb die HDP demokratische und transparente Strukturen braucht. Vor allen Dingen ist es notwendig, dass ArbeiterInnen und junge Leute sehen können, wie in der Partei Entscheidungen getroffen werden, und dass es keine „heimliche PKK-Agenda“ gibt.
Bei den Wahlen hat die HDP starke Unterstützung von türkischen Menschen bekommen. Die große Mehrheit dieser Wähler- und Anhängerschaft gehört allerdings der liberalen Mittelschicht an. Die entscheidende Aufgabe für die Zukunft der Arbeiterbewegung in der Türkei besteht darin, zwischen kurdischen und türkischen ArbeiterInnen eine Brücke zu bauen. Auch wegen ihres Wahlerfolgs kann die HDP sehr bedeutsame Schritt ein diese Richtung unternehmen. Dazu muss sie jedes gesellschaftliche Problem, jeden noch so kleinen Arbeitskampf oder das kleinste Anzeichen von Arbeiter-Widerstand aufgreifen und ihre Position in den Medien und im Parlament nutzen. Dann kann die HDP zu einem „Sprachrohr“ der gesamten Arbeiterklasse werden.
Natürlich ist es positiv, dass die HDP jegliche Koalition mit der AKP von Anfang an ausgeschlossen hat. Sie sollte aber auch unmissverständlich jede Koalition mit anderen im Parlament vertretenen Parteien ausschließen. Dazu ist bisher noch nichts Eindeutiges gesagt worden. Bei der neuen Regierung – egal, wie sie zusammengesetzt sein mag – wird es sich um eine Regierung der sozialen Kürzungen und rechten Vorstellungen handeln. Daher sollte die HDP nicht auf die „Hinweise“ hören, dass alle Parteien „Verantwortung“ für die politische Stabilität des Landes hätten. Sie sollte keinen Wert auf Koalitionsverhandlungen mit pro-kapitalistischen Parteien legen sondern sich auf die bevorstehenden sozialen Auseinandersetzungen vorbereiten. So könnte sie beispielsweise die herrschende Stimmung und ihren Wahlerfolg zum Anlass nehmen, um nun zu Massenversammlungen einzuladen. Dazu könnte sie die ArbeiterInnen, jungen Leute, AktivistInnen aus den sozialen Bewegungen etc. einladen, um gemeinsam darüber zu diskutieren, wie der Kampf weitergehen kann.
Die Erfahrung mit vielen linken Parteien auf der ganzen Welt zeigt, dass nach anfänglichen Wahlerfolgen die reale Gefahr besteht, dass solche Parteien wieder nach rechts gehen. Um dies zu verhindern, muss ein schlüssiges politisches Programm her, es braucht demokratische Strukturen auf allen Ebenen und eine aktive Mitgliedschaft. Die Kernaufgabe wird darin bestehen, für eine originär sozialistische Ausrichtung der HDP zu sorgen. Die Partei muss sich auf Massenaktionen der Arbeiterklasse stützen und für die Verstaatlichung der Banken und Konzerne einsetzen. Dafür müssen die AktivistInnen in der bevorstehenden Phase Sorge tragen. Um sicherzustellen, dass diese Formation nicht im Sumpf der politischen Kompromisse, Koalitionen mit pro-kapitalistischen Parteien und Kürzungen versinkt, müssen organische Verbindungen zu den Basis-Gruppen, sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen hergestellt werden.
Dieser Artikel basiert auf Berichten der GenossInnen von „Sosyalist Alternatif“ (Schwesterorganisation der SLP und Sektion des CWI in der Türkei)