Seattle, Melbourne, Prag, Nizza...: Auf zu neuen Ufern!

Harald Mahrer

In der ersten Hälfte der 90er gab es zwar schon bald nach dem Kollaps des Stalinismus im Osten Europas wieder Bewegungen der ArbeiterInnenklasse, z.B. den ÖTV-Streik in Deutschland oder den Air France Streik in Frankreich. Diese Jahre waren aber dennoch vom scharfen Wind des kapitalistischen Triumphgeheuls geprägt.
Während in den ersten Jahren der 90er der Neoliberalismus (oft auch hinter dem Schlagwort Globalisierung verborgen) ähnlich einer Religion „unhinterfragbar“ war, ist das Jahr 2000 zum endgültigen Wendepunkt in der nach-stalinistischen Ära geworden.
Die Massendemonstrationen gegen die Aushängeschilder des Weltkapitalismus WTO, IWF und Weltbank in Seattle, Washington D.C., Melbourne und Prag haben die totale Hegemonie des neoliberalen Weltkapitalismus die ersten Risse in der Fassade zugefügt. Sie waren der sichtbare Ausdruck einer grundlegenden Veränderung im Bewusstsein hunderttausender, ja millionen Menschen.
10 Jahre Regentschaft des „Shareholder Value“ mit einer rigorosen „Spar“politik selbst in den reichsten Ländern der Welt hat ihre Spuren hinterlassen. Die Reichen werden nur deshalb nicht in die soziale Pflicht genommen, weil sie den Schwächeren einen Aufstieg in Aussicht stellen. Nun wird vielen Menschen aber bewusst, dass sie trotz „Fleiss“ und redlicher Bemühungen diesen Aufstieg nicht schaffen werden, ja gar nicht schaffen konnten. Für Viele zeigt die Realität im Gegenteil gesellschaftlichen Abstieg oder zumindest die reale Gefahr, dass ein solcher eintreten wird.

Die ersten dunklen Wolken am Horizont

Die Anzeichen, dass das Kapital nicht widerstandslos seine zentralen Projekte durchbringen wird, mehren sich seit Mitte der Neunziger. In Frankreich erzwang ein Generalstreik 1995 die erste signifikante Rücknahme von Sparplänen einer konservativen Regierung, in Italien wurde zuvor schon eine rechte Regierung vor allem wegen ihrer Attacken auf das Pensionssystem von einer Massenbewegung zu Sturz gebracht.
Eine entscheidende Wende nahm die Entwicklung 1997 als die Vorzugsschülerin des Kapitalismus, die südost- und ostasiatische Wirtschaft, wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrach. Eine Eruption von Massenbewegungen erschütterten die Region. Die angeblich so streb- und genügsamen ArbeiterInnen in Südkorea und Indonesien rüttelten gehörig an den Grundfesten ihrer kapitalistischen Regime.
Eine der brutalsten Diktaturen der Welt, jene von Suharto in Indonesien, stürzte nach wochenlangen Massenaufständen. Auch wenn die indonesische Revolution nicht bis zum Ende ging, und im Wesentlichen die Strukturen der Macht, Unterdrückung und Ausbeutung intakt geblieben sind, so stellte diese „unvollendete“ Revolution, doch den Beginn einer neuer Welle von Aufständen, Revolten und Revolutionen dar. Diese revolutionäre Welle ist noch klein, und es besteht keine direkte Vernetzung zwischen den einzelnen Bewegungen, aber und das ist entscheidend, sie hat noch keine große Niederlage hinnehmen müssen und ihre Tendenz zeigt aufwärts.
Interessanterweise schwappte die revolutionäre Welle von Südostasien nach Lateinamerika. Die Aufstände in Ecuador und Bolivien, in denen die Aufständischen bereits nach der Macht griffen, sie aber nicht zu halten vermochten, die Wahl von Präsident Chavez in Venezuela und eine Stabilisierung Kubas zeigen alle in eine Richtung: In Lateinamerika brauen sich neue soziale Stürme zusammen.

In der Höhle des Löwen

Waren die Vorboten einer neuen Radikalisierung an der Peripherie des Weltkapitalismus anzutreffen, ist sie seit November 1999 mitten in der Höhle des Löwen angekommen. Die tagelange Belagerung der amerikanischen Stadt Seattle durch zehntausende AktivistInnen aus Umweltschutz-, Gewerkschafts-, Frauenrechts-, „3.-Welt“-, Menschenrechts-, und verschiedenen linken Gruppen machte einen ordnungsgemäßen Ablauf der WTO-Tagung unmöglich. Die Konferenz scheiterte letztlich an der Blockade durch die US-Regierung, die – auch aufgrund der Proteste sich nicht durchsetzen konnte. Seit diesem Treffen der WTO konnten die Institutionen des Weltkapitalismus keine Konferenz mehr abhalten, die nicht massiv von Protesten behindert worden wäre, sieht man/frau von einem Treffen auf einer abgeschiedenen japanischen Pazifikinsel ab. Seit Seattle wurde in Washington D.C., London, Melbourne (Australien), Prag und Nizza die jeweilige Konferenz belagert. Den Palästen ist der Krieg erklärt worden.
In dieser Bewegung gibt es einige Momente, die eine detaillierte Betrachtung rechtfertigen. Die AktivistInnen dieser Bewegung sind in den USA hauptsächlich Studierende und besser Gebildete, die sich in Ein-Punkt-Bewegungen engagiert haben. Seattle war der Ort, wo sie einander kennen lernten. Diese gemeinsame Demonstration ließ die gemeinsamen Interessen erkennen und machte den gemeinsamen Gegner namhaft. Darüber hinaus beteiligten sich in Seattle auch ArbeiterInnen. Einige  Gewerkschaften kämpften Seite an Seite mit Studierenden, die gegen die „Superausbeutung“ von ArbeiterInnen in der sogenannten dritten Welt kämpfen. Das Besondere in Seattle war gerade die Beteiligung der Gewerkschaften, aus diesem Umstand ist nicht zu letzt die Schlagkraft dieser Mobilisierung zu erklären. Der Spitze der Teamsters (US-TransportarbeiterInnen-Gewerkschaft) ist die Dynamik der Proteste wohl unheimlich geworden. Sie mobilisierten für die Proteste in Washington D.C. nicht mehr. Die Präsenz der Gewerkschaften drängte die in Seattle anwesenden rechten, konservativen und auch obskuren Kräfte, die versuchten aus der Antiglobalisierungsstimmung ihr Kapital zu schlagen, zurück.
In diesen Protesten ist auch eine internationale Dimension eröffnet worden. Die Macht der multinationalen Konzerne, die nicht nur die Bedingungen der ArbeiterInnen in den USA, sondern weltweit diktieren, steht im Mittelpunkt der Bewegung. Seattle hat auch den AktivistInnen in anderen Regionen der Welt Auftrieb gegeben. So wurden solche Massenproteste auch in Australien und Europa möglich. Seattle wurde zum Symbol für die „Globalisierung der Antiglobalisierung“.
Nicht zuletzt das brutale Vorgehen der Polizei in Seattle und andernorts gegen die Demonstrierenden öffnete vielen AktivistInnen die Augen, auf welcher Seite der Staatsapparat steht. Weiße Studierende aus der Mittelschicht konnten plötzlich nachvollziehen, was mit dem Wort „Polizeiübergriff“ gemeint ist. Eine Erfahrung, die die AktivistInnen der Black und Latino Communities ihnen voraus hatten. Seattle war der Startpunkt einer breiten Bewegung gegen die Aushängeschilder des Kapitalismus, die bereits über die Mittelschichten hinaus geht.
Welches Bewusstsein spiegelt diese Bewegung wider?
„Wer hat die WTO gewählt?“, war ein prominenter Slogan in den Anti-WTO-Bewegungen. Dieser Slogan zeigt einerseits den Wunsch, das eigene Schicksal in die eigenen Händen zu nehmen. Anderseits zeigt er aber auch die Illusion in die Reformierbarkeit solcher Institutionen deutlich.
Das vorherrschende Bewusstsein in dieser Bewegung ist keinesfalls ein ausgeprägt sozialistisch, nicht einmal eindeutig antikapitalistisch. Im Wesentlichen ließe es sich als konzernkritisch beschreiben. Die AktivistInnen haben erkannt, dass die Welt nach der Pfeife einiger weniger multinationalen Konzerne tanzt und sind nicht länger bereit diese Dominanz so einfach hinzunehmen. Sie stellen Forderungen sozialer, ökologischer oder menschenrechtlicher Natur und verlangen, dass sich die Konzerne an diese Spielregeln halten.
Eine kleine Schicht hat bereits erkannt, dass die Konzerne nicht daran denken, ihre Profite und ihre Macht für „Spielregeln“ auf Spiel zu setzen. Es entwickelt sich eine sich radikalisierende Stimmung „gegen Konzerne“. Der Slogan: „Menschen nicht Profite“ bringt die Stimmung auf den Punkt. Viele AktivistInnen haben noch Illusionen in die Reformierbarkeit und die Möglichkeit der Demokratisierung der Institutionen des Weltkapitalismus. Sie kämpfen für die Einhaltung von erkämpften Rechten und Gesetzen, sie kämpfen für die Demokratisierung aller Lebensbereiche, damit die Rechte und Gesetze den Bedürfnissen der Menschen entsprechen.
Dieses Bewusstsein ist noch nicht antikapitalistisch an sich, aber es birgt bereits einige Sprengkraft. Es spricht den Mächtigen im Kapitalismus die alleinige Verfügungsgewalt über Mensch und Natur ab. Noch ist den meisten AktivistInnen nicht bewusst, dass das Kapital sich nie und nimmer freiwillig in ihre Machenschaften dreinreden lässt, geschweige den bereit wäre, für eine „vernünftige Reform“ auf Profit zu verzichten. Die kommenden Kämpfe werden bei vielen AktivistInnen Erfahrungen mit sich bringen, die dazu führen werden, dass breitere Schichten den Kapitalismus als solches infrage stellen.

Vote Nader

Die Kampagne Ralph Naders bei den Präsidentenwahlen in den USA setzte an diesem verallgemeinerten Bewusstsein an. Trotz eines Wahlsystems, das KandidatInnen kleiner Parteien extrem benachteiligt, konnte Ralph Nader 2.7 Millionen Stimmen gewinnen. Die Kernpunkte seiner Kampagne trafen bei zehntausenden AktivistInnen aus der Umwelt-, Gewerkschafts- und Menschenrechtsbewegung exakt den Nerv. Das erklärt warum seine Kampagne im Gegensatz zu seiner Kandidatur bei den vorangegangen Wahlen eine derartige Anziehungskraft entwickeln konnte.
Nader trat mit einem Programm gegen die Allmacht der Konzerne, für Konsumentenrechte und Umweltschutzmassnahmen, für den Aufbau eines öffentlichen Sozial- und Gesundheitswesens und für faire Weltbeziehungen ein. Vor allem aber trat er gegen die, in den Augen vieler eindeutig mit den Konzernen verbundenen, Großparteien auf. Der zentrale Slogan: „Wer ist das kleinere Übel? Warum ein Übel wählen? Wählt Nader!“, bezeichnete den Befreiungsschlag, den die Naderkampagne für viele AktivistInnen bedeutete. Endlich konnte jemand gewählt werden, der tatsächlich „anders“ ist.
Besonders interessant an dieser Kampagne war, dass selbst ein charismatischer Kandidat mit bürgerlichem Hintergrund vom Elan der Kampagne nach links gedrängt wurde. Im Laufe der Kampagne sahen mehr und mehr AktivistInnen unterschiedlichster Bewegungen die Möglichkeit in diese Kampagne einzugreifen und brachten ihre Forderungen ein. Diese Forderungen fanden Widerhall in der Kampagne und so rückte der KonsumentInnenanwalt immer weiter nach links.
Auch wenn Ralph Nader alles andere als ein Sozialist ist, bedeutete der Erfolg seiner Kandidatur, vor allem aber die Art und Weise wie dieser Erfolg zu Stande kam, einen Bruch von radikalisierten Schichten der ArbeiterInnenbewegung mit den Demokraten. Dieser Bruch von kleinen aber bedeutenden Schichten der amerikanischen ArbeiterInnenbewegung mit den Demokraten stellt einen großen Schritt in Richtung eigenständige Organisierung der ArbeiterInnenklasse dar. Genau dieser Schritt macht die Naderkampagne so bedeutend.

Die ArbeiterInnenklasse kehrt auf die Bühne des Klassenkampfes zurück

Die Naderkampagne und auch die Proteste in Seattle fielen zeitlich mit einer weiteren interessanten Entwicklung zusammen. In den USA regte sich die ArbeiterInnenklasse wieder. Nach jahrelangem Boom, der an den ArbeitnehmerInnen fast spurlos vorüberging, forderten sie ihren Anteil ein. Besonders erwähnenswert, dass gerade besonders hart unterdrückte Schichten große Fortschritte erkämpfen konnten. Der UPS-Streik 1997 war nur ein Vorbote und hat vielen prekär Beschäftigten Mut gemacht. In Los Angeles streikte das Reinigungspersonal der Krankenhäuser – großteils EinwanderInnen ohne Papiere – und erreichten nach monatelangem harten Arbeitskampf – sowohl Papiere als auch große Verbesserungen bei Lohn und Arbeitsbedingungen.
Ihr Kampf war tausenden KollegInnen im ganzem Land ein Beispiel und schon bald gab es in den meisten größeren Städten ähnliche Kampagnen, die zum Teil ähnlich große Erfolge brachten. Besonders EinwanderInnen aus dem ärmeren Süden sind es, die in den USA ein neues kämpferisches Gesicht der Gewerkschaften aufbauen. Der AFL-CIO, der amerikanische Gewerkschaftsbund, revidierte in einer historischen Wende 2000, seine Position zu zugewanderten ArbeiterInnen. Der Druck der Bewegung brachte die jahrzehntelange rassistische Position von Einwanderungsbeschränkungen, etc. zu Fall und setzte die Forderung nach Papieren für alle und gleiches Recht für alle ArbeiterInnen durch.
Viele dieser neuen kämpferischen Gewerkschaftsbasis fanden sich in der Nader-Kampagne wieder, einige kleinere Gewerkschaften unterstützten Nader offiziell und nahmen aktiv an den Bewegungen in Seattle und an der Wahlkampagne teil. Diese Unterstützung der Naderkampagne durch Gewerkschaften stärkte die Kandidatur im Vergleich zur letzten Kandidatur ungemein. Die Stärke der Kampagne und auch der Seattle-Proteste war eben, dass sie sich nicht auf die „Zivilgesellschaft“ beschränkte, sondern eine Verbindung zwischen Umwelt-, Menschenrechts- und GewerkschaftsaktivistInnen herstellte. Die Kampagnen gingen über moralisches Weltverbesserertum hinaus und repräsentierten echte Interessenskämpfe.
Zusammengenommen sind diese Anzeichen noch keine verallgemeinerte antikapitalistische oder gar sozialistische Massenbewegung, aber es sind deutliche Anzeichen zu sehen, dass sich aus den vorhandenen Bewegungen eine solche entwickeln könnte.

Auch in Europa erste Anzeichen

Nicht nur auf der anderen Seite des Atlantiks mehren sich die Zeichen für ein Wiedererwachen eines antikapitalistischen Bewusstseins. In Irland zum Beispiel versucht die ArbeiterInnenklasse in erbitterten Kämpfen ihren Anteil am Boom des sogenannten keltischen Tigers zu bekommen. So unterschiedliche Berufsgruppen wie Lokführer, Supermarktangestellte, TextilarbeiterInnen und Buslenker erkämpfen Verbesserungen bei Löhnen und den Arbeitsbedingungen.
Gerade Irland ist ein Beispiel, wie es auch einer kleinen Partei gelingen kann eine vorhandene  gesellschaftliche Stimmung aufzugreifen und durch solide Arbeit für und vor allem mit den betroffenen Menschen auch ihren Wirkungskreis zu erweitern.
Die irische Sektion des Komitees für eine ArbeiterInneninternationale, die Socialist Party, errang nach einer erfolgreichen Kampagne gegen die Einführung einer Wassersteuer ein Mandat im irischen Parlament. Die Bekanntheit des Abgeordneten – Joe Higgins – nützte die Partei dazu ihre Politik im ganzen Land bekannt zu machen. Die kämpfenden ArbeiterInnen beobachteten die Arbeit Joe Higgins, der den Streikenden immer Unterstützung anbot, mit natürlichem Misstrauen. Zu oft waren ihre Hoffnungen schon enttäuscht worden.
Mit der Zeit und durch die kontinuierliche Arbeit Joe Higgins konnte aber Vertrauen aufgebaut werden. In verschiedenen Städten, in die die Socialist Party noch nie zuvor einen Fuß gesetzt hatte, konnten neue Parteigruppen eröffnet werden. Das Beispiel zeigt das Worte allein noch keine Partei aufbauen, es sind die Taten. Higgins behält von seinem Abgeordnetengehalt im Unterschied zu allen anderen nur den durchschnittlichen FacharbeiterInnenlohn ein, den Rest führt er an Partei und diverse Bewegungen ab.  Er trägt nicht die Parlamentsarbeit zu den ArbeiterInnen und vertröstet sie, sondern bringt ihre Anliegen in die Parlamentsdebatten ein – gegen alle Widerstände der anderen Parteien.
Die ArbeiterInnen wollen ihren Teil vom Aufschwung
Europa hinkt in einem Punkt noch hinter der Bewegung in den USA hinterher. Die Bewegung ist noch nicht so verallgemeinert, wie in den USA. Auch sind es in Europa noch eher traditionellere Schichten, die in die Kämpfe eintreten. Nachdem den ArbeitnehmerInnen über die ganzen Neunziger erzählt wurde, die Krise, die Modernisierung und der Euro verlangten Opfer in Form von Sparpaketen und Reallohnverlusten, reicht es jetzt den ArbeiterInnen. Sie fordern ihr Stück vom Aufschwung. In Norwegen konnte in einem Generalstreik gegen den Willen der Gewerkschaftsführung eine saftige Lohnerhöhung errungen werden. Aber auch in anderen Ländern, wie Frankreich, Griechenland, Spanien, Portugal, Dänemark oder Deutschland stellen die ArbeiterInnen mehr und mehr Forderungen. Und sie sind vielfach bereit für diese auch zu kämpfen.

Neue Formationen auch in Europa

Dennoch treten auch in Europa neue Schichten in den Kampf ein. Die französische Arbeitslosenbewegung AC! ist die am besten organisierte und stärkste solcher Bewegungen in Europa. Dies ist vor allem darauf zurück zu führen, dass Linke bewusst Strukturen geschaffen haben, in denen sich die Betroffenen organisierten. Es handelt sich nicht um eine bloße Selbstorganisierung, sondern sie bezieht die Erfahrungen vergangener Kämpfe in diese Organisierung mit ein. Das heißt, es organisieren sich nicht nur neu in den Kampf eintretende Schichten, sondern sie finden bereits „VeteranInnen“ anderer Bewegungen vor, die mit ihren Erfahrungen wertvolle Beiträge zum Erfolg dieser neuen Strukturen leisten.
Die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, Armut und prekäre Beschäftigungsverhältnisse schafften es mit mehreren Demonstrationen anlässlich verschiedener EU-Gipfeltreffen den Kampf dieser neuen Schichten auf europäischer Ebene sichtbar zu machen. Es gelang jedoch nicht, diese Kämpfe auf einer verallgemeinerten Ebene zu verknüpfen und so eine größere Breitenwirksamkeit zu erreichen. Dies ist wiederum auf den Umstand zurückzuführen, dass die beteiligten Linken eine solche Verbreiterung gar nicht offensiv anstreben. Es zeigt sich, dass es für den Erfolg und das organisatorische Entstehen neuer Bewegungen und Formationen unabdingbar ist, dass bewusste Kräfte so ein Projekt vorantreiben.
Es ist aber darüber hinaus bedeutend für die Entwicklung dieser Formationen, wie diese bewussten Kräfte agieren. Im Falle von Euromarsch und AC! verfolgen die involvierten Kräfte eine einigermaßen eigenartige Strategie des „Sich-selbst-Versteckens“.

Welche Schritte sind jetzt nötig?

Diese Formationen haben den ersten wichtigen Schritt bereits vollzogen, namentlich ihre Konstituierung. Der nächsten zentralen Schritte wären, der weitere Aufbau, die Verallgemeinerung und die Entwicklung eines Programms, das in der Lage ist, zum Anziehungspunkt für breitere Schichten der ArbeiterInnenklasse zu werden. Genau in diesen Punkten wird die falsche Herangehensweise der führenden Kräfte in diesen Bewegungen deutlich. Anstatt die Erfahrungen vorangegangener Klassenauseinandersetzungen einzubringen und auf das reichhaltige theoretische Fundament der eigenen Tradition zurückzugreifen, überlassen sie in diesen Punkten die Bewegung sich selbst. Sehenden Auges lassen sie die Bewegungen das Rad neu erfinden.
Die ArbeiterInnenbewegungen bietet in ihrer Geschichte unzählige gelungene und misslungene Beispiele für den Aufbau neuer Formationen, sie bietet unzählige Beispiele für erfolgreiche Programme und Programme, die in die Sackgasse führten. All das wird nicht eingebracht und zum Gegenstand der Debatten gemacht, im Gegenteil es wird sogar versucht diese Erfahrungen außen vor zu halten, nur um das Neue an diesen Formationen hervor zu kehren, als wäre die AC! die erste Arbeitslosenbewegung der Geschichte.  
Diese Position kann einerseits als untaugliche Reaktion auf die Diskreditierung der gesamten Linken nach dem Zusammenbruch des Stalinismus gesehen werden und andererseits eine mangelnde Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und vor allem der eigenen Fehler. Anstatt zu erklären, warum es bislang nicht gelang eine neue ArbeiterInnenbewegung aufzubauen, erklärt man/frau gleich den Versuch als unmöglich und sucht sich etwas „Neues“.
Die Weigerung die Führungsrolle, die diese Kräfte inne haben, seriös und ehrlich anzunehmen und offen zu sagen, wofür man/frau steht, führt dazu, dass diesen Bewegungen wichtige Orientierungspunkte fehlen und schwächen sie so letztendlich. Sie bringen sich um die Früchte ihrer eigenen Arbeit.

Was fehlt sind ArbeiterInnenparteien

Bislang sind in Europa Bewegungen nicht verallgemeinert aufgetreten. Es ging um spezielle Punkte in einzelnen Ländern, Branchen oder sogar nur Betrieben. Zur Verallgemeinerung fehlen einerseits noch Erfahrungen aus diesen Kämpfen und andererseits vor allem Parteien und Organisationen, die in der Lage und Willens wären, diese Verallgemeinerung voranzutreiben. So gelingt es allzu oft den VertreterInnen etablierter Kräfte wie der Gewerkschaften oder der bürgerlichen Parteien, oft sogar ausgewiesenen Konservativen die Führung von Bewegungen zu übernehmen.
Weil es keine ArbeiterInnenpartei gab, die auf internationaler Ebene in ausreichendem Ausmaß, die Bewegungen gegen die Ölpreiserhöhungen zu führen, konnten konservative Kräfte, wie die CDU hier federführend wirken. Beispiele für solch seltsame Allianzen gibt es zahlreiche.

Die Notwendigkeit einer klassenbewussten Führung

Am drastischsten zeigte sich das Vakuum auf der Linken in Jugoslawien. Ein mächtiger ArbeiterInnenaufstand stürzte Milosevic und spülte trotz zum Teil entstandener eigener Strukturen einen Nationalisten und Kumpanen des Imperialismus – Kostunica – an die Macht.
Dieser Widerspruch zwischen den TrägerInnen des Aufstands und den TrägerInnen des neuen Regimes in Belgrad spiegelt das Grunddilemma des Beginns des einundzwanzigsten Jahrhunderts wider. Der Kapitalismus hat kann weniger und weniger einen Weg nach vorne aufzeigen, die ArbeiterInnenklasse steht gleichzeitig vor der Situation, führungs- und strukturlos – buchstäblich entwaffnet – zu sein. Dieser Zustand ist allerdings keineswegs festgeschrieben.
Die Unfähigkeit des Kapitalismus provoziert Kämpfe der ArbeiterInnenklasse, in diesen Kämpfe bilden sich Strukturen und auch Führungen. Bislang waren diese Strukturen und Führungen zu schwach oder zu sehr dem alten System verhaftet (oder beides), als dass sie in der Lage gewesen wären, den Kapitalismus ernsthaft zu gefährden. Dennoch gehen diese Erfahrungen nicht verloren, im Gegenteil: Sie sind Bedingung für eine weitere Entwicklung.
Viele Aufstände in den letzten Jahren haben gehörig an den Machtfesten des Kapitalismus gerüttelt – sei es in Ecuador, Bolivien, Serbien oder Indonesien gewesen – ihn zu stürzen vermochten sie nicht. Das zeigt die potentielle Stärke der ArbeiterInnenklasse, aber auch die Notwendigkeit diese Stärke zu bündeln und auf ein konkretes Ziel zu richten. Es zeigt die Notwendigkeit einer unabhängigen Klassenpartei mit einer konsequenten Führung. Die Situation in Jugoslawien verdeutlicht, dass ein System noch so verrottet, noch so überholt sein kann – von selbst verabschiedet es sich nicht. Die Überwindung des Kapitalismus muss bewusst vollzogen werden, dazu bedarf es einer Partei und deren Führung, die diese Überwindung bewusst vollzieht. Leo Trotzki, Führer der Oktoberrevolution, schrieb im Exil kurz vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges angesichts der katastrophalen Niederlagen der ArbeiterInnenklasse in den Dreißigern: „Die Krise der Menschheit ist die Krise der proletarischen Führung.“ Diese These ist heute noch – um einen Punkt verschärft – zutreffend: Die Krise der Menschheit ist die Krise der proletarischen Organisationen und deren Führungen.

Und sie bewegt sich doch

All diese Beispiele zeigen die Notwendigkeit für den Aufbau einer neuen internationalen ArbeiterInnenbewegung, in vielen dieser Beispiele sehen wir aber auch die Ansatzpunkte für einen solchen Aufbau. Die Lehren dieser Bewegungen rund um den Globus sind klar. Eine neue ArbeiterInnenbewegung wird nicht vom Himmel fallen, sie wird aus den Bewegungen und Erfahrungen heraus geboren werden. SozialistInnen können in diesen Entwicklungen durch das Einbringen von Erfahrungen vergangener Kämpfe und Bewegungen einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Klassenbewusstseins leisten, das ist eine ihrer wesentlichsten Aufgaben. Dem sich entwickelnden Bewusstsein wird eine neue ArbeiterInnenbewegung entspringen und diese wird die Kraft der ArbeiterInnenklasse bündeln. Das legt den Grundstein dafür, dass die ArbeiterInnenklasse entscheidend in die zukünftigen Entwicklungen eingreifen wird können. Vor zehn Jahren wurde die ArbeiterInnenklasse für tot erklärt, aber entgegen allen Unkenrufen: Sie bewegt sich doch und das war erst der Anfang.