Leo Trotzki: Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats (Januar 1932) - Auszug

II. Demokratie und Faschismus
Leo Trotzki

(…) Die Reihe ist ans faschistische Regime gekommen, sobald die „normalen“ militärisch-polizeilichen Mittel der bürgerlichen Diktatur mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Gleichgewichtserhaltung der Gesellschaft nicht mehr ausreichen. durch die faschistische Agentur setzt das Kapital die Massen des verdummten Kleinbürgertums in Bewegung, die Banden deklassierter, demoralisierter Lumpenproletarier und all die zahllosen Menschenexistenzen, die das gleiche Finanzkapital in Verzweiflung und Elend gestürzt hat. Vom Faschismus fordert die Bourgeoisie ganze Arbeit: hat sie einmal die Methoden des Bürgerkriegs zugelassen, will sie für lange Jahre Ruhe haben. Und die faschistische Agentur, die das Kleinbürgertum als Prellbock benutzt und alle Hemmnisse aus dem Wege räumt, leistet diese Arbeit bis zum Ende. Der Sieg des Faschismus führt dazu, daß das Finanzkapital sich direkt und unmittelbar aller Organe und Einrichtungen der Herrschaft, Verwaltung und Erziehung bemächtigt: Staatsapparat und Armee, Gemeindeverwaltungen, Universitäten, Schulen, Presse, Gewerkschaften, Genossenschaften. Die Faschisierung des Staates bedeutet nicht nur die Mussolinisierung der Verwaltungsformen und -verfahren – auf diesem Gebiet sind die Veränderungen letzten Endes zweitrangig – sondern vor allem und hauptsächlich die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen, Zurückwerfung des Proletariats in amorphen Zustand, Schaffung eines Systems tief in die Massen dringender Organe, die eine selbständige Kristallisation des Proletariats unterbinden sollen. Darin besteht das Wesen des faschistischen Regimes.

Dem Gesagten widerspricht in keiner Weise die Tatsache, daß sich zwischen demokratischem und faschistischem Regime während einer gewissen Periode ein Übergangsregime herausbildet, das Züge des einen und des anderen in sich vereinigt: das ist allgemeine Regel bei der Ablösung zweier sozialer Regimes, selbst wenn sie unversöhnlich miteinander verfeindet sind. Es gibt Augenblicke, wo sich die Bourgeoisie sowohl auf die Sozialdemokratie wie auf den Faschismus stützt, d.h. sich zu gleicher Zeit ihrer versöhnlerischen und ihrer terroristischen Agentur bedient. So in gewissem Sinne die Kerenski-Regierung während der letzten Monate ihrer Existenz: halb stützte sie sich auf die Sowjets, und gleichzeitig verließ sie sich auf die Verschwörung mit Kornilow. So auch die Brüning-Regierung, die auf einem Seile zwischen den beiden unversöhnlichen Lagern tanzt, den Stab der Notverordnungen in den Händen. Doch ein solcher Zustand von Staat und Regierung hat provisorischen Charakter. Er ist Ausdruck der Übergangsperiode, wo die Sozialdemokratie ihre Mission schon beinahe erfüllt hat, während gleichzeitig weder Kommunismus noch Faschismus schon für die Machteroberung bereit sind.

(…) die herrschende Klasse lebt nicht im luftleeren Raum. Sie steht in bestimmten Beziehungen zu den übrigen Klassen. Im „demokratischen“ Regime der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft stützt sich die Bourgeoisie vor allem auf die von den Reformisten im Zaume gehaltene Arbeiterklasse. Am vollendetsten kommt dieses System in England zum Ausdruck, bei der labouristischen wie bei der konservativen Regierung. Im faschistischen Regime stützt sich das Kapital, zumindest im ersten Stadium, auf das Kleinbürgertum, das die Organisationen des Proletariats vernichtet. Das ist das italienische Beispiel! Besteht ein Unterschied im „Klasseninhalt“ dieser beiden Regimes? Stellt man lediglich die Frage nach der herrschenden Klasse, so ist kein Unterschied vorhanden. Nimmt man Lage und Wechselbeziehungen aller Klassen, so zeigt sich – vom Standpunkt des Proletariats – ein beträchtlicher Unterschied.

 Im Laufe vieler Jahrzehnte haben die Arbeiter innerhalb der bürgerlichen Demokratie, unter deren Ausnutzung und im Kampf mit ihr, eigene Festungen, eigene Grundlagen, eigene Zentren der proletarischen Demokratie geschaffen: Gewerkschaften, Parteien, Bildungsklubs, Sportorganisationen, Genossenschaften usw. Das Proletariat kann nicht im formellen Rahmen der bürgerlichen Demokratie an die Macht kommen, sondern nur auf revolutionärem Wege; das ist durch Theorie und Praxis gleichermaßen erwiesen. Aber gerade für den revolutionären Weg braucht es die Stützpunkte der Arbeiterdemokratie innerhalb des bürgerlichen Staates. Auf die Schaffung solcher Basen lief ja die Arbeit der Zweiten Internationale in jener Epoche hinaus, als sie noch eine progressive historische Arbeit versah.

Der Faschismus hat zur grundlegenden und einzigen Bestimmung, bis aufs Fundament alle Einrichtungen der proletarischen Demokratie zu zerstören. Hat dies für das Proletariat einen „Klassensinn“ oder nicht? Mögen die hohen Theoretiker darüber nachdenken. Während er das Regime bürgerlich nennt – was unbestreitbar ist – vergißt Hirsch gleich seinen Lehrmeistern eine Kleinigkeit: den Platz des Proletariats in diesem Regime. den historischen Prozeß ersetzen sie durch eine nackte soziologische Abstraktion. Doch der Klassenkampf wird auf dem Erdboden der Geschichte geführt und nicht in der Stratosphäre der Soziologie. Ausgangspunkt für den Kampf mit dem Faschismus ist nicht die Abstraktion des demokratischen Staates, sondern sind die lebendigen Organisationen des Proletariats selbst, in denen seine ganze Erfahrung konzentriert ist und die seine Zukunft vorbereiten. (…)