Bericht einer Lehrerin über die Realität an einer Mittelschule in Wien

Erfahrungsbericht einer Lehrerin und Aktivistin der Internationalen Sozialistischen Alternative (ISA) und der sozialistisch-feministischen Initiative ROSA

"Meine Kolleg*innen und ich sind schon nach der ersten Schulwoche nur mehr im Überlebensmodus und schaffen es nur deshalb durch den Schulalltag, weil wir glücklicherweise ein starkes, solidarisches Team sind und uns, wo es nur geht, gegenseitig unterstützen. Viele Tränen sind schon geflossen - oft aus Überforderung, aber auch weil wir täglich sehen, wie motiviert, offen und stark die Kinder und Jugendlichen sind - und dass sie viel, viel mehr als dieses Chaos und diesen Mangel verdient haben. Sie haben es verdient, eine umfassende Bildung zu erfahren, sich in der Schule wohlzufühlen, sich entfalten und wirklich lernen zu können. Wir haben diesen Job nicht angetreten, um ein unmenschliches und rassistisches System zu verwalten, dass diese Schüler*innen klein hält und vernachlässigt. 

Wir versuchen aktuell, alle unmittelbaren Aufgaben irgendwie unter einen Hut zu kriegen. An diversen Besprechungen und Konferenzen teilnehmen, Elternabende organisieren, versuchen, nichts zu vergessen und dabei den Schüler*innen trotzdem noch einen möglichst angenehmen und schönen Schulstart zu ermöglichen. Ich bin sehr schnell, gezwungenermaßen, zu einem Multitasking-Talent geworden - was aber auch bedeutet, dass ich vieles nicht in der Qualität machen kann, die ich eigentlich für notwendig erachte, besonders was die Gestaltung des Unterrichts betrifft. Ich hatte viele Ideen, die ich umsetzen wollte, aber dieses System zwingt uns, alles, was pädagogisch sinnvoll bzw. notwendig wäre, über Bord zu werfen und nur mehr die Kinder “aufzubewahren” und zu versuchen, jeden Tag irgendwie ohne größere Probleme oder Konflikte zu überstehen. Offiziell haben wir in diesem Schuljahr nur eine Stelle, die unbesetzt ist - doch um wirklich allem nachkommen und qualitativ hochwertigen Unterricht gewährleisten zu können, gerade im Bereich von Deutsch als Fremd/Zweitsprache bräuchten wir unserer Einschätzung nach mindestens 10 Lehrkräfte mehr.

Ich komme am Ende dieser Woche auf grob 25 Stunden rein administrative Arbeit - da sind noch keine Unterrichtsstunden (22 in pro Woche) und Unterrichtsvorbereitungen dabei. Hier nur ein kleiner Bruchteil dieser Aufgaben: Elterninformationen austeilen und Übersetzungen organisieren, Schüler*innendaten anlegen und digitalisieren, Religionsabmeldungen einholen und eintragen, Materialien für die Klasse organisieren, Schüler*innenlisten anlegen, Schüler*innenausweise ausstellen usw.

Ich übernehme eine unserer zwei Deutschförderklassen, die schon jetzt in Wirklichkeit überfüllt sind. 74 Schüler*innen - mit insgesamt über 12 verschiedenen Erstsprachen - müssten bei uns ihrem Status nach, laut der offiziellen Vorgaben, in die Deutschförderklassen - unmöglich bei nur zwei Klassen und zwei Lehrkräften. Wir haben nur eine Arabischlehrerin und sonst keine anderen Erstsprachen-Lehrkräfte zur Unterstützung. Mehrsprachigkeit ist eine unglaubliche Ressource, doch wir können sie nicht nutzen, im Gegenteil, diesen Schüler*innen wird auf allen Ebenen vermittelt, dass ihre Sprache keine Ressource, sondern eine Hürde, ein Problem ist. Rassistische Debatten über “Deutschpflicht” haben auch ihre Wirkung auf Direktionen und Lehrkräfte.

Wir können jedenfalls bei diesen Zahlen nicht anders als rumtricksen, um die Klassengröße noch einigermaßen angemessen halten zu können - allein das bedeutet viel zusätzlichen Koordinations- und Bürokratieaufwand. Als ich meiner Direktorin sagte, dass unsere Klasse mittlerweile voll ist, war ihre verzweifelte Antwort “Es gibt kein voll”. 

Die ersten Tage begannen für uns damit, neue Schüler*innen aus den Regelklassen für die Deutschförderklasse herauszuholen. Alle Schüler*innen werden nämlich auf Papier Regelklassen zugeteilt, wir sind als Deutschförderklassen-Lehrkräfte dann dafür verantwortlich, die Schüler*innen, die aufgrund ihrer Deutschkenntnisse “außerordentlich” sind, zu sammeln und in unsere Klasse zu setzen. Damit geht ein riesiger bürokratischer Aufwand einher. Wann die Schüler*innen zurück in ihre Regelklassen können hängt von den regelmäßig durchgeführten, sehr wenig aussagekräftigen und erniedrigenden “MIKA-D Tests” bzw. dem Auslaufen ihres außerordentlichen Status zusammen.

Was bedeutet all das für uns und für die Kinder und Jugendlichen? Stell dir vor, du bist erst seit wenigen Monaten in Österreich, hast eine traumatische Fluchterfahrung hinter dir, kannst endlich in die Schule gehen, kommst in deine Klasse, verstehst niemanden und wirst dann nach einem oder zwei Tagen wieder herausgerissen, du weißt nicht warum, niemand erklärt es dir, und musst dich in einer neuen Klasse zurechtfinden. Diesen Kindern und Jugendlichen wird von Anfang an vermittelt, dass sie nicht dazugehören, dass sie anders sind, dass sie nicht “gut genug” sind, um in einer “normalen Klasse” zu sein. In mir hat sich alles dagegen gewehrt, die Schüler*innen auf diese Art aus den Klassen rauszuholen - doch es gibt keine Zeit und zu viel Stress, um mit den Kolleg*innen eine andere, zumindest etwas humanere Form der Organisation dieses Prozederes zu besprechen - es wurde immer so gemacht, es geht am schnellsten, also bleibt es so. Gerade diese Schüler*innen brauchen sofortige Stabilität und ein liebevolles System, das sie auffängt und ihnen Struktur gibt. In der Schule passiert das Gegenteil.

In der Deutschförderklasse angekommen, wird allen schnell klar, dass diese Klasse anders behandelt wird als alle anderen. “Flüchtlingsklasse” wird sie von den anderen Schüler*innen genannt, sogar manche Lehrkräfte nutzen als “Drohung” Aussagen wie “Sonst schicke ich dich rüber in die Deutschförderklasse”. Es ist purer Rassismus, pure Ausgrenzung, pure Unmenschlichkeit. Alle wissen, dass die Schüler*innen in den Regelklassen viel besser und schneller Deutsch lernen würden - vorausgesetzt, es gäbe mehrere Lehrer*innen im Unterricht und zusätzliche Fördermaßnahmen. Geld und Ressourcen gäbe es dafür genug, doch das System der Deutschförderklassen ist den Herrschenden und Regierenden lieber - denn es ist nicht nur billiger, sondern verfestigt auch den gesamtgesellschaftlichen Rassismus, den sie wollen und brauchen.

Wir versuchen, dagegen zu halten, aber wir kommen allein nicht gegen das System an. Was wir im Alltag tun können ist nur, im Rahmen dieses Systems unser Möglichstes zu tun, um die Kinder und Jugendlichen nicht zu retraumatisieren und uns so gut es geht um sie zu kümmern, für sie da zu sein. Aber auch damit geraten wir immer wieder an unsere Grenzen: Offiziell ist für diese Schüler*innen 22 Stunden reiner Deutschunterricht vorgesehen - ein Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass sie ja irgendwann in die Regelklassen kommen müssen und dort in allen Fächern benotet werden. Also ist es unsere individuelle Verantwortung sicherzustellen, dass sie auch andere Fächer im Unterricht behandeln. Ich bin weder Mathe, noch Musik, noch Biologielehrerin und kenne mich in diesen Fächern auch kaum aus, doch ich werde mich einarbeiten und diese unterrichten müssen wenn ich will, dass die Schüler*innen nach einem Jahr nicht völlig und ein weiteres Mal ins kalte Wasser geschmissen werden.  Außerdem steht es ihnen zu, Abwechslung zu haben - ganz zentral ist dafür aus meiner Sicht Turnen, Sport, Rausgehen, Bewegung. Als ich den Stundenplan für unsere Klasse erstellen wollte und Turnstunden einplanen wollte, wurde mir gesagt, dass der Turnsaal leider schon voll belegt ist. Den Kindern der Deutschförderklasse stehen also keine Turnstunden im Turnsaal zu. Eine Stunde später haben mich die Schüler*innen aufgeregt gefragt, wann wir denn in den Turnsaal gehen und ich musste meine Tränen unterdrücken. Ich werde weiter für diese Stunden kämpfen und irgendeine Lösung finden, aber ich kann es nicht fassen, dass das die Zustände sind. Das verletzt die Rechte dieser Kinder und Jugendlichen - aber es bringt auch uns als Lehrkräfte in unerträgliche Situationen. Schüler*innen, die zum Teil kein Wort Deutsch verstehen oder sprechen können, die eh schon in allen Lebensbereichen ausgegrenzt und diskriminiert werden, brauchen ganz besonders viel Aufmerksamkeit und Zeit von unserer Seite - Zeit und Ressourcen, die wir nicht haben. Das schmerzt - und die Gefahr ist sehr groß, entweder auszubrennen oder abzustumpfen. Eine Kollegin hat mir von einem Schüler aus ihrer Klasse erzählt, der vor einem halben Jahr aus Syrien geflohen ist, seine Mama und Geschwister sind noch dort, er vermisst sie sehr. Er liebt Mathe und mag es sehr, in die Schule zu gehen. Zuhause hat er keinen Platz zum Lernen, wohnt mit 6 Personen in einem kleinen Zimmer, weil die Familie immer wieder geflüchtete Freund*innen und Familien aufnimmt, er kann nicht schlafen und holt den Schlaf im Unterricht nach. Sie ist verzweifelt, weil sie nicht weiß wie sie ihm helfen kann und fühlt sich schuldig, weil sie nicht einmal genug Zeit hat, um in Ruhe ein Gespräch mit dem Vater zu führen. Diese Schuldgefühle gibt uns dieses System, die Regierung, die selbst verantwortlich ist für die Bildungsmisere. Meine Kolleg*innen und ich sind froh, dass es Initiativen wie “schule brennt” gibt, die sich für bessere Arbeitsbedingungen und auch gegen das System der Deutschförderklassen, gegen Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit an Schulen einsetzen - denn von unserer Gewerkschaft können wir aktuell nichts erwarten. Obwohl es eigentlich ihre Verantwortung wäre sofort einen bundesweiten Streik aller Pädagog*innen zu organisieren, um diese Zustände aufzudecken und zu bekämpfen. Deshalb haben wir als “schule brennt” mit einer Petition und Protestaktionen vor der zuständigen Gewerkschaft GÖD sehr klar gemacht: “Wir sind streikbereit!”