Österreich 1918: Die halbe Revolution

Die Massen wollten 1918 „die sozialistische Republik“.
Sebastian Kugler

Österreich war der Schlüssel zur internationalen Revolution – und ihr Sargnagel.

 

Dass 1918 ein revolutionäres Jahr werden würde, zeichnete sich schon zu Jahresbeginn ab: Am 14. Jänner traten FabrikarbeiterInnen in Wiener Neustadt in den Streik - und ihre KollegInnen im ganzen sterbenden monarchistischen Staat schlossen sich ihnen an: Bis 22. Jänner streikten in Wien, Niederösterreich, Oberösterreich, der Obersteiermark, Krakau, Brünn und Budapest knapp eine Million. Auslöser war eine erneute Kürzung der Mehlrationen als Folge des zermürbenden Krieges gewesen. Doch es ging den ArbeiterInnen nicht nur ums Mehl. Sie streikten v.a. in Solidarität mit der Revolution in Russland: dort hatten die ArbeiterInnen mit ihrer revolutionären Partei, den Bolschewiki, die Macht selbst in die Hand genommen. Sie begannen, das Land unter den armen Bauern aufzuteilen, die Fabriken selbst zu führen und über die Geschicke des Landes selbst in Räten zu bestimmen – und sie wollten Frieden. Die österreichischen ArbeiterInnen hörten die Appelle der Bolschewiki, sich ebenfalls von ihren eigenen UnterdrückerInnen zu befreien, anstatt sich weiter für sie abschlachten zu lassen.

Sie wählten Räte, nach russischem Vorbild. Ebenso häuften sich an der Front Meutereien und Rebellionen wie im Marinehafen Cattaro. Anstatt auf die ArbeiterInnen anderer Länder wurden die Gewehre nun gegen die Offizierskommandos und Stabsführungen gewendet. Ebenso schöpften die von den Habsburgern in den K.u.K.-Staat gezwängten Nationen Hoffnung: Jahrhundertelang wurden sie von Wien aus unterdrückt, doch nun sollte Schluss damit sein.

Trotz ihrer Dominanz über die ArbeiterInnenbewegung wurde die sozialdemokratische Partei (SDAP) völlig überrumpelt. Die Führung versuchte alles, um die Lage in den Griff zu bekommen. Noch während des Jännerstreiks trafen sich die Parteiführer Victor Adler, Karl Renner und andere heimlich zu einer Konferenz im Außenministerium mit Baron Flotow. Dort bedauerten sie die Ausbreitung der Streikbewegung und sprachen von der Revolution als einer „Gefahr, vor der wir alle stünden“.

Warum handelte die Parteiführung so? Viele von ihnen verstanden sich ja tatsächlich als SozialistInnen. Doch für sie war die bürgerliche Republik eine nötige Vorstufe zum Sozialismus. Sie erklärten sich zwar in Worten mit den Bolschewiki solidarisch, doch eine sozialistische Revolution hielten sie für unmöglich oder zu gefährlich. In den letzten Jahrzehnten hatten sie gelernt, einen riesigen Parteiapparat von oben zu manövrieren – und genau so sollte auch der Sozialismus kommen: von oben, durch kluge Reformen der Parteiführung. Die ArbeiterInnenklasse hielten sie für dazu nicht in der Lage. Die Parteispitzen hatten auch beträchtliche Privilegien angesammelt – und nun akzeptierten die Christlichsozialen und Deutschnationalen, ja sogar die Habsburger, sie endlich notgedrungen im Club der Privilegierten. Ihre Aufforderungen zu Ruhe, Ordnung und Besonnenheit in dieser chaotischen Zeit stießen auch bei Teilen der ArbeiterInnenklasse auf offene Ohren, die sich nach den vierjährigen Strapazen nach etwas Stabilität sehnten. So konnte die Sozialdemokratie den Jännerstreik 1918 bändigen, aber der Zerfall der Monarchie ließ sich nicht aufhalten.

In die Risse, die der Staat an allen Ecken und Enden bekam, stießen die „Arbeiter- und Soldatenräte“ vor. Sie organisierten die Verteilung von Lebensmitteln, kämpften gegen Schleichhandel und Schwarzmarkt, wiesen Wohnungen zu und kontrollierten die Produktion. Doch hier zeichnete sich eine zentrale Frage ab: Sollten die Räte weiterhin nur Aufgaben erledigen, die der zerfallende Staat nicht mehr übernehmen konnte, bis er sich wieder aufrappelte – oder sollten sie, wie in Russland, selbst die Macht übernehmen?

Die Antwort der SDAP-Führung war klar – und sie konnte auf ihren immer noch fast ungebrochenen Einfluss in den Gewerkschaften und Räten vertrauen. Die radikalen Linken, die wie die Bolschewiki „Alle Macht den Räten!“ forderten, waren zu wenige und zu unerfahren. Im Verlauf von 1918 wurden die Räte immer mehr rein administrative Strukturen und immer weniger zu Kernen einer radikal anderen Gesellschaft. Auch das Level sozialer Kämpfe erreichte in der Folge nicht mehr jenes des Jännerstreiks.

Auslöser für den endgültigen Zusammenbruch der Monarchie war folglich auch nicht die Rätebewegung, sondern die militärischen Niederlagen und die Unabhängigkeitsbewegungen der nichtdeutschen Nationen im Habsburgerreich. Der Kollaps vollzog sich im Herbst 1918. Am 21. Oktober konstituierte sich die provisorische Nationalversammlung durch die drei großen Parteien – Sozialdemokratie, Christlich-Soziale und Deutschnationale. Bis kurz vor ihrer Ausrufung war die Republik nicht auf der Tagesordnung. Sie erfolgte als hastige Reaktion der Parteien auf eine Situation, die ihnen zu entgleiten drohte. Denn der Kollaps der Monarchie feuerte die revolutionären Tendenzen noch an. Auf dem Parteitag der SDAP am 31. Oktober und 1. November 1918 warnte Otto Bauer noch einmal: „Die Massen sind von Ungeduld erfüllt, die Massen meinen, es sei Zeit, weiterzugehen und die zunächst rein politische Revolution weiterzuführen zu einer sozialen“, wogegen sich Bauer jedoch ausgesprochen verwehrte. Die weitreichenden sozialen Verbesserungen, die mit der Einführung der Republik beschlossen wurden, waren somit nicht das Werk gütiger DemokratInnen – sondern Nebenprodukte einer abgebrochenen Revolution.

Einen Monat später wendete sich Ignaz Seipel, selbst Minister des letzten kaiserlichen Kabinetts und zentrale Persönlichkeit der Christlichsozialen, in einem vielsagenden Brief an einen deutschen Kollegen:

„Die Gefahr, dass die bolschewistischen Wellen zu uns hereinschlagen, war groß. So blieb nichts übrig, als dass der Kaiser zwar nicht abdankte, aber sich doch von den Regierungsgeschäften zurückzog, und die provisorische Republik proklamiert wurde. Die Parteikoalition blieb bis zur Stunde aufrecht, keinerlei nennenswerte Unruhe störte die bürgerliche Ordnung, aber wir leben in der ständigen Gefahr, dass die Berliner und Münchener Neuordnung auf uns übergreifen.“

Die „bolschewistischen“ Wellen, vor denen Seipel und sein sozialdemokratischer Koalitionspartner zitterten, schwappten in der Tat 1918/19 über ganz Europa: Von der ungarischen Räterepublik bis zum Sowjet in Belfast, von der Bremer Räterepublik bis zu den „zwei Roten Jahren“ in Italien. Ein sozialistisches Europa war in diesen Jahren greifbar nahe – und damit ein völlig anderer Verlauf der Geschichte. Die SDAP entschied sich jedoch, den Kapitalismus zu retten, indem statt des Kaisers nun ein bürgerliches Parlament dieses ausbeuterische und zerstörerische System verwalten sollte. Der Sozialismus wurde auf eine ferne Zukunft verschoben. So wurde Österreich zum Sargnagel der internationalen Revolution. Statt eine revolutionäre Brücke zwischen München und Budapest aufzubauen, ließ man diese Revolutionen im Stich – obwohl sie um Hilfe aus Wien flehten. Die Folgen waren verheerend: In Russland wurde die Revolution isoliert und mutierte zur stalinistischen Diktatur. Auf den gebrochenen Rücken der europäischen Revolutionen konnten sich in Ungarn, Italien und nicht zuletzt Deutschland und Österreich die faschistischen Bewegungen aufbauen. Das kapitalistische Wirtschaftssystem, weit entfernt davon, sich von klugen SozialdemokratInnen human steuern zu lassen, erlitt bereits 1929 den nächsten Kollaps und bereitete den Weg in die faschistische Barbarei.