Der Generalstreik als Waffe der ArbeiterInnenklasse

Die Gewerkschaftsbürokratie nützt Generalstreiks zum Dampfablassen – doch er kann den Kapitalismus stürzen
Fabian Lehr

Wenn die Klassiker des Marxismus immer wieder betonten, dass die ArbeiterInnenklasse die einzige Macht sei, die den Kapitalismus stürzen könne, dann war das keine auf moralischen Urteilen beruhende Marotte. Diese Einschätzung basierte auf der Tatsache, dass ein erfolgreicher gesellschaftlicher Umsturz nicht ohne eine potentiell überwältigende ökonomische Machtbasis vollzogen werden kann. So, wie nur das wirtschaftlich aufstrebende Bürgertum den Adel entmachten und den Kapitalismus schaffen konnte, so kann in der Moderne nur die ArbeiterInnenklasse das Kapital stürzen und den Sozialismus errichten. Das naheliegendste Mittel des Kampfes ist für ArbeiterInnen der Streik: Wenn die ArbeiterInnen keinen Mehrwert mehr produzieren, entziehen sie dem Kapital die Basis. Zumindest theoretisch, denn Voraussetzung dafür ist ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein und Solidarität der ArbeiterInnenklasse untereinander. Diese ergeben sich nicht automatisch. Die Regel sind kleinere Streiks, in denen ein Bruchteil der ArbeiterInnen für einen begrenzten Zeitraum für einzelne Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Situation streikt. Doch diese Kämpfe können ein Sprungbrett für das Bewusstsein und die Kampfkraft der ArbeiterInnenklasse sein, wenn sie verknüpft und mit einem größeren Ziel verbunden werden. Ein ausdauernder Generalstreik ist ein Kampfmittel, das die ArbeiterInnenklasse potentiell unbesiegbar macht. Es kann aber nur realisiert werden, wenn zuvor das nötige politische Bewusstsein ausgebildet wurde - und wenn eine revolutionäre Partei ihn begleitet, die der Bewegung eine Kapitalismus überwindende Perspektive geben kann.

Eines der eindrucksvollsten Beispiele für die theoretischen Möglichkeiten und die praktischen Begrenzungen des Generalstreiks sind die Geschehnisse um den Kapp-Putsch 1920. Ein Generalstreik von Millionen ArbeiterInnen brachte binnen Tagen eine rechtsextreme Putschregierung zu Fall. Aber hier zeigen sich auch die Grenzen des Generalstreiks: Die Sozialdemokratie, die zwei Jahre zuvor die sozialistische Revolution abgewürgt hatte, konnte wieder an die Macht zurückkehren, sich erneut mit den Freikorps arrangieren und sie gegen die ArbeiterInnen des Ruhrgebiets losschicken, die weiterstreikten und versuchten, die Situation in eine sozialistische Revolution zu überführen. Das politische Bewusstsein und die Klassensolidarität der meisten ArbeiterInnen waren stark genug, eine revolutionäre Situation zu schaffen – aber ihre revolutionäre Führung, die KPD, war nicht in der Lage, die Revolution zum Erfolg zu führen.

Auch ein Blick auf Griechenland zeigt, dass der Generalstreik allein nicht ausreichend ist, um einen Systemsturz herbeizuführen. Dort fanden seit Beginn der brutalen Sparmaßnahmen der Troika dutzende Generalstreiks statt, aber immer nur zeitlich eng begrenzt und ohne systemüberschreitende Perspektive. So erschütterten die Streiks kaum die Stabilität der Regierungen und das Sparen konnte weitergehen. Solange die großen Gewerkschaften von einer Führung dominiert sind, die sich mit dem Kapitalismus gütlich einigen will, werden sie Generalstreiks nur in politischen und wirtschaftlichen Extremsituationen in Erwägung ziehen. Wenn solche Gewerkschaften unter dem Druck der Basis doch in einen Generalstreik gezwungen werden, versuchen sie diesen zu mäßigen und abzubremsen, ehe er dem Kapital gefährlich werden kann. Sie wollen das Kapital nur dazu bewegen, ihnen innerhalb des kapitalistischen Rahmens ein paar Konzessionen zu machen, nicht aber, diesen Rahmen zu sprengen.

Der Generalstreik ist potentiell eine machtvolle Waffe der ArbeiterInnen - aber nur, wenn ihre Organisationen bereit und fähig sind, ihn in revolutionärem Sinn anzuwenden. Ein Generalstreik kann zu einem Systemsturz führen und mehr sein als eine Drohgebärde, um der Gewerkschaftsbürokratie etwas Prestige zu verschaffen. Dazu ist die enge Zusammenarbeit mit einer revolutionären Partei nötig. Die demokratischen Strukturen, die eine Streikbewegung braucht, um funktionieren zu können wie ArbeiterInnenräte, proletarische Selbstverteidigungskomitees usw. bilden auch die Basis für eine echte neue Demokratie, wenn der Kapitalismus durch Generalstreik und Revolution hinweggefegt wird. Diese Strukturen entstehen meist spontan, doch wenn sie sich vernetzen, Betriebe übernehmen und Nachbarschaften verwalten, stellen sie die Keimzelle einer sozialistischen Gesellschaft dar. Doch dafür braucht es bewusste politische Agitation im Streik und den Strukturen. Der Generalstreik allein stürzt noch nicht den Kapitalismus - aber mit einer revolutionären Partei, die ihn zu nutzen weiß, kann er der Beginn sein.

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