Blame The System! Fluchtursache Kapitalismus

Über 40 Millionen Menschen weltweit sind auf der Flucht; ⅔ davon sind Binnenflüchtlinge im eigenen Land.
Pablo Hörtner

Warum flüchten Menschen aus einer vertrauten Umgebung in eine ungewisse Zukunft und trennen sich “freiwillig” von geliebten Menschen und dem bisschen, das sie besitzen? Alleine 1921-35 wanderten ca. 23.000 WienerInnen und 20.000 BurgenländerInnen in Hoffnung auf ein besseres Leben, meist in die USA, aus. Heute hat Österreich eines der restriktivsten “Fremdenrechte” Europas. Selbst in der Schweiz haben AsylwerberInnen ein Arbeitsrecht. Migrationsbewegungen und Flüchtlingsströme hat es immer gegeben (auch in Österreich). Doch versucht die herrschende Ideologie, sie auf ein "Dritte-Welt-Problem" zu reduzieren. Die häufig vorgenommene Trennung zwischen "politischen" und "wirtschaftlichen" Fluchtursachen ist unzulässig. WelcheR seriöseR HistorikerIn würde heute die sogenannte „Völkerwanderungen“ im beginnenden Mittelalter auf eine einzige Ursache reduzieren?

Die Gründe für Flucht reichen von Krieg und Gewalt, politischer Verfolgung, Diskriminierung jeder Art, ethnischen oder religiösen Konflikten über Naturkatastrophen und Klimawandel bis hin zu Hungersnöten und (extremer) Armut (wobei letztere von der Genfer Konvention nicht als Asylgrund anerkannt werden). Auch wenn diese Interpretation umstritten ist, bedeutet das lediglich, dass alle anderen Flüchtlinge aus Sicht des bürgerlichen Staates keinen besonderen Schutzbedarf (vor politischer Verfolgung) haben, nicht jedoch, dass ihnen die Menschenwürde genommen, die Einreise verweigert oder das Bleiberecht verwehrt werden soll. KeineR von uns kann sich Ort, Gesellschaftsschicht oder Familie aussuchen, in die sie/er geboren wird. Auch wenn uns Medien und Politik das weismachen wollen, sind nicht individuelles Machtstreben oder Gier die Hauptursache für Flucht und Elend. Es ist vielmehr die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, auf der das kapitalistische Weltsystem gründet. Korrupte und autoritäre Regimes sind dann der Ausdruck dieser enormen Ungleichheit.

Das kapitalistische Profitsystem hat weltweit die soziale Ungleichheit, die Kluft zwischen den lohnabhängigen Massen und den sie beherrschenden Eliten (und somit auch die Gewaltspirale sowie Umweltkatastrophen) auf ein zuvor nicht gekanntes Niveau katapultiert. Als Klassengesellschaft fußt der Kapitalismus auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und auf der ungleichen Entwicklung der Weltwirtschaft. Bevor der Kapitalismus zum weltumspannenden System wurde, bedurfte es des Kolonialismus, der territorialen Aufteilung der Welt unter den kapitalistischen Zentren.

Über diesen blutigen Prozess der “ursprünglichen Akkumulation”, der für den Aufstieg des Kapitalismus notwendig war, schreibt Marx in “Das Kapital” (1867): „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Gehege zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. (...) Den aufschießenden Manufakturen sicherte die Kolonie Absatzmarkt und eine durch das Marktmonopol potenzierte Akkumulation. Der außerhalb Europas direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floss ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital.”

“Welche Strapazen viele Flüchtlinge erleiden müssen, ist oftmals schwer vorstellbar.” (UNHCR)

Privateigentum und Profitmaximierung sind alles – der Mensch ist nichts! In der gegenwärtigen Phase, dem Stadium des Imperialismus, der (kontinuierlichen) ökonomischen (Neu-)Aufteilung der Welt unter einigen wenigen Großmächten, werden aus den alten Kolonien formell “souveräne Staaten”. Tatsächlich bleiben die meisten dieser Länder wirtschaftlich und politisch abhängige Satelliten (Semi- oder Neo-Kolonien) mit einer Fülle ungelöster Probleme. Wer ausschweift und einen “eigenständigen Weg” versucht, wird zum Schurkenstaat deklariert. Geändert haben sich lediglich die Vorzeichen. Zur Zeit des Kalten Krieges richtete sich der Zorn des Imperialismus v.a. gegen den “Kommunismus” und nationale Befreiungsbewegungen, heute richtet sich der “War on Terror” gegen die seinerzeit von USA & Co. zur Schwächung der Linken (mit)aufgebauten al-Qaida und anderer dschihadistischer Organisationen. Dass es dem Imperialismus dabei nicht um die Wahrung der Menschenrechte, sondern ausschließlich um die Sicherung von Macht und Profiten geht, ist offensichtlich.

Lenin fasst den Übergang vom Kolonialismus zum Imperialismus 1916 als "die Besitzergreifung der Rohstoffquellen durch die Trusts und die Finanzoligarchie (Finanzkapital ist das mit dem Bankkapital verschmolzene monopolistische Industriekapital); die (ökonomische) Aufteilung der Welt durch internationale Kartelle hat begonnen. (…) Der Kapitalexport, als besonders charakteristische Erscheinung zum Unterschied vom Warenexport im nicht-monopolistischen Kapitalismus, steht in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und der politisch-territorialen Aufteilung der Welt; die territoriale Aufteilung der Welt (Kolonien) ist abgeschlossen." zusammen. So sichern die Regierungen den großen Banken und Konzernen ihre Einflusssphären und Absatzmärkte, achten auf billige Rohstoffquellen, niedrige Löhne und korrupte Regierungen, die sozialen Protest und politische Organisierung unterdrücken und so für Wettbewerbsvorteile und größtmögliche Profite sorgen. Wer Widerstand leistet, bezahlt dafür nicht selten mit dem Leben. Viele Menschen sehen in der Flucht den letzten Ausweg aus der Misere.

Internationale Organisationen wie WTO, IWF und Weltbank (beides Sonderorganisationen der UNO) sorgen durch Schuldenfalle und aufgezwungene Monstersparpakete für eine Aufrechterhaltung des Abhängigkeitsverhältnisses. Die UNO dient als humanitäre Maske, mit deren Hilfe dem politischem Druck, Wirtschaftssanktionen und Kriegen seitens des Imperialismus ein menschliches Antlitz verpasst werden soll. Auch österreichische Unternehmen und (Ex-)PolitikerInnen sind führend an dieser Form des Wirtschaftens beteiligt. So pflegt(e) beispielsweise die OMV enge Kontakte zum Gaddafi-Regime sowie zum Iran. Ex-Kanzler Gusenbauer ist seit 2010 Berater des kasachischen Diktators Nasarbajew. Österreichs KapitalistInnen und PolitikerInnen haben direkten Anteil an den Fluchtursachen in den betreffenden Ländern. Sie haben Interesse an einer “Stabilisierung” in Mali, um die Rohstoffvorkommen zu sichern. Sie profitieren von den Landenteignungen in Indien, die wieder ein Grund für Flucht und Armut in der Region sind.

Daher scheitern auch alle Lösungsansätze, die Armut als regionales oder kulturelles Problem betrachten. Auch durch den Kauf von „Fair Trade“-Produkten oder Verzicht können „wir hier im Norden“ die Not im „Süden“ nicht lindern. Es ist nicht „unser“ Wunsch (bzw. unsere Notwendigkeit) nach billigen Konsumgütern, der die Löhne in Pakistan drückt, sondern ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, das die Ware Arbeitskraft überall ausbeutet. Es sind also die Flüchtlinge ebensowenig schuld an der miesen Lage in ihren Herkunftsländern wie die ArbeiterInnenklasse in den entwickelten kapitalistischen Ländern schuld daran ist. Das System Kapitalismus ist die Ursache – und zwar weltweit!

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