Mi 01.12.1999
Massenkündigungen bei Fusionen, steigende Aktienkurse bei Personalabbau, Produktivitätssteigerungen und die anhaltende Massenarbeitslosigkeit in Europa erzeugen eine Stimmung, die das „Ende der Arbeit” heraufbeschwört und die Unmöglichkeit einer Rückkehr zur Vollbeschäftigung predigt. SoziologInnen und PolitologInnen schreiben dutzende Bücher, in denen diese These vertreten wird und meinen, die Gesellschaft solle gemeinnützige Tätigkeiten irgendwie fördern.
Vollbeschäftigung: ein Relikt?
Hans Peter Martin verbreitete in seinem Bestseller „Globalisierungsfalle” die Szenerie, dass Erwerbsarbeit eine Ausnahmeerscheinung sein wird, nämlich nur für 20% der Bevölkerung.
Vivianne Forrester meint in „Der Terror der Ökonomie”, dass es sich bei der Arbeitsgesellschaft um eine „untergegangene Welt” handelt. Sie kommt zum Schluß, dass es angesichts des „nicht zu behebenden und wachsenden Mangels an Arbeitsplätzen lächerlich und grausig (ist), jedem der millionen zählenden Arbeitslosen eine nachweisbare und ständige Suche vorzuschreiben (...) nach einer Arbeit, die es gar nicht gibt.”
Der Soziologe Andre Gorz sieht im Mangel an Arbeitsplätzen eine Unternehmer-Strategie. Gegen den Zusammenhalt der ArbeitnehmerInnen und die Gewerkschaft haben diese „ihre unbesiegbare Waffe gefunden, nämlich die alle betreffende Verunsicherung, die Diskontinuität und Auflösung der Arbeit, ihren massiven Abbau.” „Es gibt nicht und wird nie wieder <genug Arbeit> (gemeint ist entlohnte, feste Vollzeitarbeit) für alle geben.” Er sieht im Verschwinden der Arbeit auch Chancen. Da Erwerbsarbeit unter dem Diktat des Kapitals und zu dessen Gunsten nichts erstrebenswertes sei, widerstrebt vielen die Perspektive einer Karriere in einer Vollzeitbeschäftigung. Wer sich nicht langfristig an eine Firma bindet, definiert sich nicht mehr über den Arbeitsplatz.
Das Problem sieht Gorz darin, dass heute ein Arbeitsplatz ein Wert an sich ist. Er garantiert Einkommen und auch viele soziale Rechte sind an ihn gebunden. Des Weiteren haben viele Menschen vor allem in der Arbeit soziale Kontakte zu anderen. Statt der Arbeitsgesellschaft schwebt Gorz nun die „Multiaktivitätsgesellschaft” vor. In dieser hat die Erwerbsarbeit für den/die Einzelne keine zentrale Rolle mehr, und man/frau kann über seine Zeit selbst verfügen.
Und die Realität?
Was hat es mit diesen Perspektiven auf sich, werden sie von der Realität bestätigt? Es kann schon sein, das künftig z.B. 20% der erwerbsfähigen Bevölkerung ausreichen werden, um die industriell gefertigten Güter und eine Reihe von (industrienahen) Dienstleitungen herzustellen. Aber daraus kann nicht auf eine Ende oder Verschwinden der Erwerbsarbeit geschlossen werden.
Der Anteil der in der Industrie Beschäftigten geht schon seit geraumer Zeit zurück, ohne dass deswegen zwangsläufig die Beschäftigung insgesamt sinkt. Die Frage ist, wie soll das Verschwinden der Arbeit gemessen werden. Es bieten sich einige Indikatoren an:
- Die absolute Anzahl der Beschäftigungsverhältnisse - nur werden da Voll- und Teilzeitbeschäftigungen über einen Kamm geschert.
- Die Entwicklung der Beschäftigungsquoten: Diese zeigen die relative Bedeutung der Arbeit an, indem sie den Anteil der Menschen im Erwerbsalter angeben, der in Beschäftigung steht.
- Die Entwicklung des Arbeitszeitvolumens, also Arbeitskräfte mal Arbeitszeit. Dieses zeigt das Ausmaß der geleisteten Erwerbsarbeit.
Wenn bei den selben Beschäftigungsquoten immer mehr Teilzeit arbeiten, müsste das Arbeitszeitvolumen stagnieren oder zurückgehen – so beim sogenannten „Poldermodell” in den Niederlanden der Fall.
Die Entwicklung in den Industrieländern
Ein Vergleich der OECD-Länder von 1986 und 1996 zeigt folgende Trends: Ein Steigen des Arbeitskräftepotentials, also der Leute, die einen Arbeitsplatz haben, oder als Arbeitslose einen suchen. Das heißt, dass heute mehr Menschen darauf angewiesen sind, sich ihre Existenz durch einen Arbeitsplatz zu sichern, als früher. Weitere angeführte Punkte:
- Eine deutliche Zunahme der Frauenbeschäftigungsquote.
- Anstieg der Beschäftigung.
- Zunahme der Teilzeitarbeit an der Gesamtbeschäftigung in der OECD von 15,5 auf 18,6%.
- 30% der weiblichen und 10% der männlichen Beschäftigungsverhältnisse waren 1996 Teilzeitjobs.
- 70% der Teilzeitstellen sind mit Frauen besetzt.
- Lineare Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit, aber kein weiteres sprunghaftes Ansteigen.
Was die Beschäftigung betrifft, gibt es selbst für die OECD keine Anzeichen, dass sie verschwindet, eher im Gegenteil. Die stattgefundenen Änderungen am Arbeitsmarkt betreffen die Stabilität der Beschäftigungsverhältnisse, wie die Flexibilisierung des Arbeitskräfteeinsatzes. Die Vergrößerung des Arbeitskräftepotentials zeigt, dass immer mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt und unselbständige Erwerbstätigkeit angewiesen sind. Die kapitalistischen Staaten - vor allem in Europa - sind seit Mitte der 70er Jahre mit dem Phänomen der Massenerwerbslosigkeit konfrontiert, die in Rezessionen weiter ansteigen, ohne dass der Sockel abgebaut wurde.
Gerade die USA zeigen eine mögliche Entwicklung, die nicht durch das „Ende der Arbeit”, sondern einen Boom an schlecht bezahlten Jobs charakterisiert ist. In den 90er Jahren gab es eine steigende Beschäftigung im Dienstleistungssektor. Die zentrale Tendenz war nicht das Verschwinden von Beschäftigung, sondern für große Teile der Bevölkerung eine Verschlechterung der Beschäftigungsqualität: also kurzfristige, prekäre und schlecht bezahlte Jobs.
Die USA weisen mit 73,1% eine im internationalen Vergleich hohe Beschäftigungsquote auf. Der Erwerbstätigenanteil stieg seit Mitte der 70er Jahre um 10 Prozentpunkte auf ca. 75%. Aber es stieg nicht nur die Zahl der Beschäftigen zwischen ‘91 und ‘97 um fast 40 Mio., sondern auch die durchschnittliche Arbeitszeit: 1996 arbeitete der Durchschnittsamerikaner 247 Stunden länger als 1989, während das Einkommen der Durchschnittsfamilie sank. Eine Zunahme der Teilzeitstellen heißt nicht automatisch, dass sich das selbe Arbeitsvolumen auf mehr Menschen aufteilt, sondern auch, dass viele Menschen auf mehrere Teilzeitstellen angewiesen sind und auch ausüben müssen.
Lohnarbeit und Arbeiterbewegung
Das Verhältnis der ArbeiterInnenbewegung zur Arbeit war schon immer ein ambivalentes: Einerseits sind die Mitglieder der ArbeiterInnenklasse gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie in ihrer Existenz darauf angewiesen sind, Lohnarbeit auszuüben. Andererseits stellt eben diese Lohnarbeit die Grundlage für die Ausbeutung und den Reichtum der Kapitaleigentümer dar. Die Arbeiterbewegung stellt daher aus ihrer objektiven Lage heraus zwei Forderungen bezüglich der Arbeit:
1) Arbeit für alle, Recht auf Arbeit, denn jedeR, der/die darauf angewiesen ist, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, soll auch einen Arbeitsplatz haben. Trotzki hat dementsprechend argumentiert, dass das Recht auf Arbeit das einzige Recht ist, dass einem Lohnarbeiter im Kapitalismus zustehen sollte, aber auch das wird ihm verweigert. 2) Die Verkürzung der Arbeitszeit für alle, die sich im Arbeitsprozess befinden, da nur durch eine Arbeitszeiterkürzung eine Aufteilung der Arbeit auf Alle erreicht werden kann.
Kampf um Arbeitszeitverkürzung
Die „10 Stunden-Bill”, die die tägliche Arbeitszeit in England auf 10 Stunden fixiert hat, schätzte Marx als großen Fortschritt ein. Am Beginn der modernen ArbeiterInnenbewegung stand der Kampf um den 8-Stundentag, der auch das Leitmotto der internationalen 1. Mai-Demonstrationen war. Große Fortschritte bei der Arbeitszeitverkürzung waren in Österreich 1959 die Verkürzung von 48 auf 45 Stunden und die schrittweise Verkürzung von 45 auf 40 zwischen 1970 und 1975. In den 80er und 90er Jahren wurde die Arbeitszeit nicht mehr in großem Ausmaß generell verkürzt, sondern durch den Anstieg der Teilzeitbeschäftigung und den Flexibilisierungsabkommen der 8-Stundentag für weite Bereiche der Beschäftigten aufgehoben und gesellschaftlich in Frage gestellt.
Die Antwort auf die gegenwärtigen Beschäftigungsprobleme kann nicht sein, wie es die oben angeführten AutorInnen empfehlen, sich vom Kampf um Vollbeschäftigung zu verabschieden, sondern die vorhandene Arbeit auf alle aufzuteilen. Das Volumen der Erwerbsarbeit ist in den letzten Jahren nicht gesunken. Auch die steigenden Erwerbsquoten zeigen - die Menschen sind auf Arbeit angewiesen. Wenn die Arbeit verkürzt und neu verteilt wird, ist auch eine Arbeitszeit von 30 oder weniger Wochenstunden möglich. Daneben bleibt den Menschen genug Zeit für „sinnstiftende selbst gewählte Tätigkeiten” abseits der Erwerbsarbeit, ohne dafür einen geringeren Lebensstandard in Kauf nehmen zu müssen (also Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn/Gehalt). Diesem Ziel hat sich die SOV mit ihrer Kampagne für die 30-Strundenwoche verschrieben. Doch diese Zielsetzung richtet sich gegen die Interessen des Kapitals, das die Arbeitszeit nicht generell verkürzt wissen will, sondern an die jeweilige Auftragslage anbinden will. Das steht aber dem prinzipiellen Interesse der ArbeiternehmerInnen nach individueller Zeiteinteilung entgegen.