Mi 01.12.1999
Den Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa und der Sowjetunion 1989-91 nutzten die Unternehmer für eine ideologische Offensive. ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaftsführungen gingen nach rechts. Besonders krass war das bei den „kommunistischen“ Parteien, die sich zu diesem Zeitpunkt an der Sowjetunion und ihrer Politik orientierten. Die Schwächung der ArbeiterInnenbewegung nutzten die Unternehmer für ihre Angriffe, die wiederum zu Gegenwehr führten, in der teilweise neue Organisationsformen entstanden.
Vereinigte Linke (IU) in Spanien
Sie entstand auf Initiative der Kommunistischen Partei (PCE) schon Mitte der achtziger Jahre. Wegen der reaktionären Politik der sozialdemokratischen PSOE-Regierung konnte sie ab 1989 bei Wahlen deutlich zulegen. War sie bis 1986 noch unter 5% geblieben, erreichte sie 1989 dann 9,1% und schließlich bei den EU-Wahlen 1994 sogar 13,5%. Der große Einbruch kam 1999 bei den EU- und Kommunalwahlen, die die IU in eine tiefe Krise stürzten. Sie verlor fünf ihrer neun EU-Abgeordneten und 1196 ihrer 3493 GemeinderätInnen. Der Grund war, dass sie nicht als Alternative zur inzwischen in die Opposition geratenen PSOE gesehen wurde. Sie trat zwar für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und gegen Kürzungen, Sozialabbau und den Jugoslawien-Krieg ein. Aber da sie den Kapitalismus nicht in Frage stellt und ein Teil der Führung nach einem Bündnis mit der PSOE schielt, wird das von weiten Teilen der ArbeiterInnen als utopisch angesehen. Die PSOE hatte 1982 ein ähnlich radikales Programm und machte an der Regierung das Gegenteil. Die ArbeiterInnen vertrauen der IU nicht, daß sie anders wäre - mit guten Gründen, weil die Parteiführung die Eigeninitiative und Kampfbereitschaft der Basis behindert.
Rifondazione Communista (RC) in Italien
Im Unterschied dazu hat die Rifondazione Communista (RC= Kommunistische Wiedergründung) ihre Krise vorläufig überstanden. Sie war gegründet worden, nachdem die Mehrheit der Kommunistischen Partei Italiens sich in eine offen sozialdemokratische Partei (PDS) verwandelte und mit anderen sozialdemokratischen Parteien einen Wettlauf nach rechts begann. Als 1996 das „Olivenbaum-Bündnis“ unter Führung der PDS die Wahlen gewann, entschloß sich die RC aber, diese „erste linke Regierung in Italien“ zu tolerieren und ihr eine Mehrheit im Parlament zu sichern. Und das obwohl diese Regierung massive Sozialkürzungen beschloß, um Italiens Teilnahme am EURO sicherzustellen. Im Herbst 1997 führte der Konflikt um das zweite Budget zu einer Regierungskrise, die RC erklärte sich aber nach kleinen Korrekturen bereit, das Budget mitzutragen. Erst bei den dritten Budgetverhandlungen für 1999 ließ sich die RC nicht mehr auf einen faulen Kompromiß ein. Das führte zu einer Spaltung zwischen der Parteiführung unter Bertinotti und der Parlamentsfraktion unter Cossuta, wo der rechte Flügel, der für eine weitere Zusammenarbeit mit der Olivenbaum-Regierung eintrat, besonders stark war. Der Großteil der Basis blieb aber in der RC und so hatte sie bei ihrem 4. Parteikongreß trotz Spaltung noch 76.000 Mitglieder.
Im Gegensatz zu vielen anderen ex-kommunistischen Parteien ist die RC weder eine klar reformistische Partei, wie zum Beispiel die französische KP, noch hat sie andererseits ein klar antikapitalistisches Programm, sondern es bestehen v.a. auch in der Führung Illusionen in einen „demokratischeren“ Kapitalismus. Bei den örtlichen Vorabstimmungen zum Parteikongreß gewann die „linke Opposition“ der RC rund 16% der Stimmen. Wenn sie es schafft, die Parteiführung politisch unter Druck zu setzen und gleichzeitig weiter an der Parteibasis neue AnhängerInnen für sich zu gewinnen und in den Orten, in denen sie die Mehrheit hat, vorbildliche Kampagnenarbeit und Mitgliedergewinnung zu betreiben, dann kann sie es schaffen, daß die RC in den kommenden Klassenkämpfen eine zentrale Rolle spielt und ein Anziehungspol für die fortgeschrittensten ArbeiterInnen und Jugendlichen wird. Andernfalls wird es der RC früher oder später wie der IU in Spanien 1999 gehen. Denn der Kapitalismus bietet in der gegenwärtigen Depressionsperiode weniger bis keinen Spielraum für weitreichende und dauerhafte Reformen. Das hat wiederum dahingehend Auswirkungen, dass mehr oder weniger keine stabilen reformistischen Formationen möglich sind.
Die französische Arbeitslosenbewegung und AC!
Der Rechtsrutsch und die Schwächung vieler Gewerkschaften führte dazu, daß in vielen Ländern betriebliche Kämpfe erschwert wurden und Kampagnen in anderen Bereichen an Bedeutung zunahmen. Der Wirtschaftsaufschwung in Westeuropa seit 1994 hat kaum zu einem Rückgang der Massenarbeitslosigkeit geführt. Oft nahm die Arbeitslosigkeit sogar zu. Neue Jobs waren häufig mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen verbunden. Anfang 1998 waren in Frankreich 3,2 Millionen offiziell arbeitslos (12%), von denen 1,5 Millionen nur Sozialhilfe von 2400 FF (1 FF=2,09 Schilling) erhielten. 1994 hatten die 1987 gegründete nationale Bewegung der Arbeitslosen und Geringverdiener (Mouvement national des chômeurs et précairs, MNCP), kleinere linke Gewerkschaften, Organisationen und andere Vereinigungen die Organisation AC! („Agir ensemble contre le chômage“ = „Gemeinsam Handeln gegen die Arbeitslosigkeit“, AC! klingt im Französischen wie „assez!“ = „genug!“) gegründet und im Mai einen Marsch der Erwerbslosen nach Paris organisiert, der mit der ersten großen landesweiten Demo von Erwerbslosen (30.000) in Frankreich endete. Daraufhin organisierte sich AC! in vielen Städten. Meist bestanden die örtlichen Komitees aus Arbeitslosen, die z.B. für kostenlose Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, gegen das Abstellen von Strom und Gas bei nichtbezahlten Rechnungen aktiv waren. AC! wirkte als Bindeglied zwischen organisierter ArbeiterInnenbewegung und Erwerbslosen. Im Frühjahr 1995 beteiligte sie sich an Aktionen gegen die Obdachlosigkeit, im Dezember 1995 unterstützte sie den riesigen Streik im öffentlichen Dienst, 1996 gab es Kampagnen für höhere Arbeitslosengelder. Im Frühjahr 1997 beteiligten sich Tausende AC!-AktivistInnen an den Euromärschen gegen Erwerbslosigkeit zum EU-Gipfel nach Amsterdam. Vom 16.-21. Dezember 1997 war eine Aktionswoche („sozialer Notstand“) geplant, um auf die Lage der 6 Millionen von Sozialhilfe Lebenden aufmerksam zu machen.
Bei einer Konferenz im Juni 1997 legten sich die von der Gewerkschaft CGT gegründeten Arbeitslosenkomitees eine neue landesweite Führung zu, die für die Zusammenarbeit mit anderen Arbeitslosenorganisationen offen war. In Marseille waren die Überschüsse des Sozialfonds der ASSEDIC, der gemeinsam von Staat, Arbeitgeberverbänden und der sozialdemokratischen CFDT-Gewerkschaft verwaltet wird, traditionell von der CGT als „Weihnachtsprämie“ an die Arbeitslosen verteilt worden. Durch eine Umstrukturierung der ASSEDIC sollte das wegfallen. Aus Protest besetzten die CGT-Arbeitslosen Anfang Dezember das ASSEDIC-Büro von Marseille. Die Bewegung breitete sich auf andere Orte aus und verband sich mit der ohnehin geplanten Aktionswoche. Die Arbeitslosenorganisationen einigten sich auf Forderungen wie Weihnachtsprämie von 3000 FF, Erhöhung der Mindestbeihilfe um 1500 FF und sofortige Einführung der 35-Stunden-Woche. Zwischen Weihnachten und Neujahr beherrschte die Bewegung die französischen Medien. Die Arbeitsministerin tat die Bewegung damit ab, daß nur 13 ASSEDIC-Büros besetzt seien. Fünf Tage später waren es schon 40. Autobahn-Mautstellen wurden besetzt und die Gebühren für soziale Zwecke umfunktioniert. Gas- und Elektrizitätswerke wurden in Beschlag genommen aus Protest gegen das Abschalten von Gas und Strom bei nichtbezahlten Rechnungen. Parteibüros der regierenden „Sozialistischen“ Partei wurden besetzt, am 13.1. die Warenbörse in Paris, aus Protest gegen die Spekulation mit Lebensmitteln und die Ausbeutung der „Dritten Welt“, ebenso die Industrie- und Handelskammer. In Marseille wurden stundenlang die Bahngleise blockiert, in Lyon die Abfahrt von 5 Hochgeschwindigkeitszügen verhindert, in Arras die Polizeipräfektur gestürmt. Die Elitehochschule ENS, die hohe staatliche Subventionen erhält, wurde besetzt.
Nach Umfragen sympathisieren 70% der Bevölkerung mit der Bewegung, 55% fordern eine Erhöhung der Leistungen für Arbeitslose. Die Regierung war zum Verhandeln gezwungen und bot eine Milliarde FF zusätzlich, obwohl allein die Erhöhung der Mindestbeihilfe um 1500 FF 70 Milliarden FF kosten würde. Gleichzeitig wurden am 10. Januar die meisten besetzten Arbeitsämter durch die berüchtigte Spezialpolizei CRS geräumt. Ein paar Tage später waren aber wieder mehr als ein Dutzend besetzt. Nach sechs Wochen versuchten die Arbeitslosen, die Bewegung auf SchülerInnen, Studierende und Beschäftigte auszudehnen. Am 27. Januar sollte eine Demonstration für die sofortige Einführung der 35-Stunden-Woche geben. Aber die 35-Stunden-Pläne der Regierung bedeuten für die Beschäftigten weniger Lohn und schlechtere Arbeitsbedingungen. Entsprechend schlecht lief die Mobilisierung der Gewerkschaften für die Demonstration. Die CGT wollte die Bewegung auch nicht so stark werden lassen, daß sie die Regierung gefährdet hätte, in der die ihr nahestehende Kommunistische Partei sitzt, andere Gewerkschaften unterstützten sie gar nicht. Die Bewegung flaute ab, aber sie hat das Selbstvertrauen der Arbeitslosen erhöht und ihre Strukturen gefestigt, die Zahl der Arbeitsloseninitiativen stieg von 150 auf 250.
Heute gibt es eine Schicht, für die Arbeitslosigkeit zum Dauerzustand geworden ist. Sie hoffen nicht mehr auf Arbeit, sondern auf Unterstützung, von der sie menschenwürdig leben können. Ähnliche Diskussionen über ein „arbeitsfreies“ Grundeinkommen gibt es in vielen Ländern. Bleibt die Frage, wie das gehen soll? Wenn der Kapitalismus für weite Teile der Bevölkerung keine existenzsichernde Arbeit mehr bieten kann und will, warum soll er dann ein menschenwürdiges Leben für alle sichern? Für dieses Dilemma gibt es in diesem System keinen Ausweg - den bietet letztlich nur der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft.
Neue Arbeiterpartei in Israel
Nach einem Boom 1990-95 stürzte die israelische Wirtschaft 1996 in eine mehrjährige Krise. Durch die neoliberale Politik und mehrere Sparpakete wuchs die Kluft zwischen reich und arm. Ende 1996, Ende 1997, im September 1998 und im März 1999 gab es Generalstreiks im öffentlichen Dienst und in anderen Bereichen mit bis zu 400.000 ArbeiterInnen. Die Gewerkschaft Histadruth trat teilweise sehr kämpferisch auf. Trotzdem ließ ihre Führung sich in den Verhandlungen mit der Regierung immer auf faule Kompromisse ein, die Verschlechterungen für die Beschäftigten bedeuteten, weil sie die „Sachzwänge“ des Kapitalismus akzeptiert.
Im November 1998 gab es einen einmonatigen Studierendenstreik für die Senkung von Studiengebühren mit täglichen Demos, Straßenblockaden. 490 Studierende wurden verhaftet, 133 von der Polizei verletzt. Es war ein gemeinsamer Kampf von jüdischen und arabischen, religiösen und säkularen Studierenden, es gab einen Solidaritätsstreik von arabischen SchülerInnen. In der Bewegung kam die Forderung nach einer sozialen Revolution auf. Die zahme Verhandlungsführung verhinderte einen Erfolg, aber es wurde eine neue Tradition geschaffen.
Diese heftigen Kämpfe waren der Hintergrund für die Gründung der ersten wirklichen ArbeiterInnenpartei Israels im Januar 1999. Eine Partei, die sich für die gemeinsamen Interessen aller ArbeiterInnen einsetzt - egal ob israelisch oder palästinensisch, Aschkenasim oder Sephardim, neu Zugewanderte oder in Israel geboren - ist ein großer Fortschritt. Aber der wenig klassenkämpferische Parteiname „Am Echad“ (Ein Volk), der Personenkult um Histadruth-Chef Peretz, dessen eintreten für einen „freien Markt mit Gewissen“ und die Distanzierung vom Generalstreik im öffentlichen Dienst im März 1999 zeigen die großen Schwächen dieser Partei. Sie könnten dazu führen, daß die Begeisterung bei der Gründung bald in Enttäuschung umschlägt.
Die Parteigründung in Israel zeigt die große Bedeutung von Klassenkämpfen und der in ihnen gemachten Erfahrungen der ArbeiterInnen für den Wiederaufbau der ArbeiterInnenbewegung, aber auch die Notwendigkeit der Mitwirkung von MarxistInnen bei diesem Prozeß. Deshalb treten wir nicht nur für den Aufbau neuer ArbeiterInnenparteien ein, sondern versuchen auch, unsere eigenen revolutionären Organisationen aufzubauen, um bei der Entstehung solcher Parteien mitmischen und Fehlentwicklungen wie in Israel vermeiden helfen zu können. ArbeiterInnenparteien brauchen ein sozialistisches Programm und müssen Wahlkämpfe mit der Mitwirkung an außerparlamentarischen Bewegungen verbinden, sonst landen sie bei der Mitwirkung an Kürzungspolitik.
Die Schottische Sozialistische Partei (SSP)
Im Dezember 1987 begannen unsere GenossInnen in Schottland mit der Boykottkampagne gegen die Einführung der Kopfsteuer (in Schottland 1989, in England und Wales 1990). Am 31. März 1990 demonstrierten 50.000 in Glasgow und 200.000 in London gegen die Steuer, bis zu 18 Millionen Menschen beteiligten sich am Steuerboykott. Die Massenbewegung erreichte die Abschaffung der Poll Tax und letztendlich den Sturz der Premierministerin Thatcher.
Am 29. 2. 1992 gründeten unsere schottischen GenossInnen Scottish Militant Labour (SML). Sie organisierten Kampagnen gegen die Privatisierung der Wasserversorgung, die Einführung der Mehrwertsteuer auf Heizöl, das Strafjustizgesetz (das demokratische Rechte abbaute), kommunale Kürzungen, Umweltfragen, für einen Mindestlohn und Unterstützung von Arbeitskämpfen. Diesen Kampf verbanden sie mit der Teilnahme an zahlreichen Wahlen (Parlaments-, Europa-, Kommunalwahlen). Nach der Zusammenarbeit mit anderen Linken in konkreten Kampagnen kam 1995 die Idee eines Bündnisses für Kampagnen und gemeinsame Kandidaturen bei Wahlen auf. 1996 wurde die Scottish Socialist Alliance gegründet. In ihr war SML die mit Abstand stärkste organisierte Kraft. Im Lauf der Zusammenarbeit kam es zu einer Einigung über wichtige politische Forderungen, z.B. nach einem unabhängigen sozialistischen Schottland.
Im Februar 1999 wurde aus ihr die SSP gegründet. Bei den Wahlen zum Schottischen Parlament am 6. Mai 1999 erhielt sie in neun Glasgower Wahlkreisen im Durchschnitt 7,15%, in 9 Wahlkreisen außerhalb Glasgows 2,66%. Bei den Stimmen für die Regionallisten kam SSP in ganz Schottland auf 46.635 (1,99%). CWI-Mitglied Tommy Sheridan wurde ins Schottische Parlament gewählt. Bei der Unterhaus-Nachwahl in Hamilton-Süd erhielt die SSP-Kandidatin Blackall 9,5%. Der Vorsitzende der schottischen Konservativen, McLetchie, erklärte auf die Frage, ob er verlegen sei, daß SSP mehr Stimmen bekam als sie: „Nicht wir sollten verlegen sein. Es sind nicht unsere konservativen Wähler, sondern Labour-Wähler, die sich in sozialistische Revolutionäre und Trotzkisten verwandeln.“ Einer der Schwerpunkte der SSP war die Unterstützung der Boykott-Kampagne für die von der Labour-Regierung eingeführten Studiengebühren. Seit ihrer Gründung sind der SSP Hunderte von jungen AktivistInnen beigetreten, aber auch linke ReformistInnen, die sich enttäuscht von Labour abwandten. Die CWI-Mitglieder bilden innerhalb der SSP eine eigene Tendenz, Internationale SozialistInnen. Nur der Aufbau dieser Tendenz kann sicherstellen, daß die SSP als Kampforganisation der schottischen ArbeiterInnen aufgebaut wird und nicht zu einer reformistischen Partei wird, die in der Depressionsperiode des Kapitalismus früher oder später auch die Kürzungslogik“ mitträgt.