Mi 18.06.2008
Täglich sterben weltweit 24.000 Menschen an Hunger. Das „Milleni-umsziel“ von 2000 (Halbierung der Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben) ist so fern wie nie. Nach jüngsten Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO hungert etwa eine Milliarde Menschen das ganze Jahr.
Der seit fast 20 Jahren im Weltmaßstab alleinherrschende Kapitalismus ist unfähig, auch nur das elementarste aller Menschenrechte, das Recht auf ausreichende und angemessene Nahrung, zu gewährleisten.
Aktuell leben circa 6,6 Milliarden Menschen auf der Erde. Können die wirklich alle vernünftig ökologisch-nachhaltig ernährt werden?
Überbevölkerung? Es gibt genug Nahrung!
Im Mai 2008 erklärte der renommierte Pariser Agronomieprofessor Marcel Mazoyer in einem Interview mit der Zeitung Freitag auf die Frage „Könnte eine globale Landwirtschaft, eine vernünftige Agrarpolitik vorausgesetzt, die Bevölkerung ernähren, die auf neun oder zehn Milliarden Menschen anwächst?“ folgendes: „Absolut. Die Welt ist nicht zu klein. Wenn es anderthalbmal so viele Menschen gibt wie heute und wenn auch die Menschen genug zu essen haben sollen, die heute an Unterernährung leiden, bräuchte man ungefähr den doppelten Ertrag.
Das ist möglich. Die vorhandenen Landreserven, die ohne Bewässerung bebaut werden könnten, ohne dass man dazu Wald roden müsste, betragen etwa 70 Prozent der heutigen Flächen. In der Hälfte der Welt [...] könnte man die Erträge verdoppeln.“
Paul Nicholson von der Kleinbauern- und Landarbeiterbewegung Via Campesina: „Der Welt mangelt es keineswegs an Nahrungsmitteln – es gibt sogar Überschüsse und brachliegende Produktionskapazitäten. Das Problem ist vielmehr, dass die Nahrungsmittel ungerecht verteilt sind.“
Gegenkonzept „Ernährungssouveränität“?
„Ernährungssouveränität“ ist ein viel diskutiertes und auch von vielen Linken unterstütztes Konzept. Es bezeichnet nach dem Verständnis ihrer Befürworter das Recht aller Völker, Länder und Ländergruppen, ihre Landwirtschafts- und Ernährungspolitik selbst zu definieren. Der Begriff wurde 1996 anlässlich der Welternährungskonferenz von Via Campesina geprägt.
Das Konzept beinhaltet unter anderem Landreformen, Achtung der Rechte der Bauern und Landarbeiter, Ablehnung der Gentechnik, Schutz der Kleinbauern vor Billigimporten, Förderung „agro-ökologischer kleinbäuerlicher Landwirtschaftsmodelle – oft wird es zusammengefasst mit den Worten „Brot, Land und Freiheit“.
Löst eine kleinbäuerliche Produktionsweise die Probleme?
Ja und Nein!
Ja, weil unter den Bedingungen imperialistisch-neokolonialer Ausbeutung die Forderung nach einer neuen, kleinbäuerlichen Agrarordnung eine Kampfansage an den globalen Freihandelskapitalismus darstellt. Auch die Bolschewiki siegten 1917 in Russland mit der Parole „Land, Brot, Frieden“, obwohl durchaus keine Anhänger kleinbäuerlichen Grundbesitzes, sondern einer kollektivierten Landwirtschaft. Eine Landreform, die das Land denen gibt, die es bearbeiten, wäre ein gewaltiger Fortschritt im Kampf gegen Armut und Hunger – aber nicht durchsetzbar im Rahmen des Kapitalismus.
Nein, weil privater Grundbesitz (auch von Kleinbauern oder Kooperativen) „Marktwirtschaft“ voraussetzt. Dass dauerhafte Marktreformen zu Gunsten der Arbeiterklasse, der Kleinbauern und Landlosen nicht funktionieren, zeigt der Kapitalismus, seit er besteht.
Nein auch deshalb, weil Produktivkraftentwicklung, der Einsatz von Maschinen und Technik nicht per se schlecht sind – Pflanzenwissenschaft ist nicht gleich Gentechnik, nicht jedes Pflanzenschutzmittel von Schaden.
Biologisch-ökologisch-nachhaltige Landwirtschaft muss nicht notwendigerweise kleinbäuerlich organisiert sein, sondern kann durchaus – selbstverständlich ohne jeden Zwang – auch kollektiviert und „industriell“ funktionieren und ist dann wesentlich effizienter.
Die Erkenntnis, dass gemeinsame Landwirtschaftsproduktion in größeren Einheiten auch für den einzelnen Kleinbauern Vorteile hat (zum Beispiel Unabhängigkeit vom individuellen Ernteertrag und von Marktpreisen) lässt sich nicht „verordnen“. Diese Vorteile müssen „erlebbar“ gemacht werden, um zu überzeugen.
Retter Gentechnik?
Nachweislich wird mit genmanipulierten Pflanzen mittelfristig nicht die Produktivität erhöht, sondern nur die Abhängigkeit der Bauern von den Verkäufern des patentierten Saatgutes und der Pestizide.
Durch ökologischen Landbau hingegen können die Erträge nachhaltig gesteigert werden. Eine umfassende Untersuchung dazu lieferten 2001 Jules Pretty und Rachel Hine von der Universität Essex. Sie prüften 208 ökologische Agrarprojekte von Guatemala bis Indien und fanden so gut wie überall „klare Zuwächse bei der Nahrungsmittelproduktion“, mal um 20 Prozent, mal um das Doppelte und mehr.
Nahrungsmittelproduktion und Ernährung im Sozialismus
Es ist weder möglich noch sinnvoll, eine künftige sozialistische Gesellschaft in allen Details bereits heute zu „entwerfen“, aber ein paar Grundprinzipien können wir festhalten.
Nahrungsmittelproduktion im Sozialismus wird verstärkt und tatsächlich die ökologischen – und damit sozialen – Folgen von Produktivkraftentwicklung in den Blick nehmen (müssen). Die von der Weltbank seit den sechziger Jahren angeschobene so genannte „Grüne Revolution“ führte zu Ertragssteigerungen, brachte aber den Einsatz von Pestiziden, Kunstdüngern und kommerziellem Saatgut mit sich. Der Einsatz dieser Mittel trieb Millionen von Kleinbauern in die Verschuldung und hinterließ vertrocknete, ausgelaugte Böden, verschmutztes Grundwasser und Monokulturen. Die ausgelaugten Böden verlangten nach immer mehr Kunstdünger, die mittlerwei-le resistenten Schädlinge nach immer teureren Pestiziden aus den Laboren der Pharmakonzerne, die mit der immer größeren Abhängigkeit ihrer Kunden immer größere Profite machten.
Das ist kein Plädoyer für ein naives „Zurück zur Natur“ – nicht jede Kreuzzüchtung (Hybridisierung) muss zu Monokulturen führen, nicht jede Form künstlicher Bewässerung ist ökologisch schädlich. Im Sozialismus wird ein von „Marktfähigkeit“ und Profitzwang befreiter wissenschaftlich-technischer Fortschritt ungeheure Potenziale für die Menschheit eröffnen.
Planung statt Konkurrenz
Die Kopflanger des Kapitals bläuen uns jeden Tag aufs Neue ein, dass die „unsichtbare Hand des Marktes“ die beste aller gesellschaftlichen Steuerungsinstrumente ist. Ein Blick auf die gegenwärtige Nahrungsmittelproduktion und -verteilung zeigt sofort, wie ineffektiv, sinnlos und verschwenderisch die Resultate dieses Marktregimes sind. Brauchen wir wirklich ausgerechnet Äpfel aus Neuseeland? Ist es sinnvoll, Nordseekrabben zum Pulen nach Marokko zu karren und dann zum Verkauf wieder zurück nach Deutschland?
Eine sozialistische Nahrungsmittelproduktion wird unsinnige Transporte vermeiden und sehr viel stärker auf regionale Wirtschaftskreisläufe ausgerichtet sein. Eine eher standortnahe Versorgung wird wahrscheinlich auch wieder verstärkt saisonale Ernährungsgewohnheiten mit sich bringen. Das würde aber in einer sozialistischen Gesellschaft demokratisch erörtert und entscheiden werden.
Weniger Burger = Müslipflicht für alle?
Sozialismus heißt nicht geringere, sondern größere Nahrungsmittelvielfalt. Die wirklichen „Gleichmacher“ sind nicht die Marxistinnen und Marxisten, sondern die Konzerne, die Monsantos und Nestles. In Indien sank die Zahl der Reissorten von etwa 50.000 in den sechziger Jahren auf etwa 50 in den Neunzigern.
Das heißt nicht: „Wie bisher, nur mehr.“ Im Sozialismus werden sich die Ernährungsgewohnheiten in der „Ersten Welt“ (USA, Westeuropa, Japan) ändern, was für eine bewusstere Bevölkerung ein Mehr und nicht ein Weniger an Lebensqualität bedeutet.
Es ist zum Beispiel ein Problem, dass insbesondere die Fleischproduktion viele Ressourcen verbraucht. Um ein Kilo Rindfleisch zu erzeugen, braucht man acht bis zehn Kilo Getreide. Wie viel Fleisch wir nachhaltig für alle Menschen produzieren können, wie viel Fleisch gesund beziehungsweise ungesund ist, würde man demokratisch diskutieren und dementsprechende Konsequenzen daraus ziehen.
Produktivität schlägt Demografie
Welche enormen Möglichkeiten eine weltweite, demokratische, nicht profitorientierte Planung eröffnen würde, zeigt ein Blick auf die unterschiedliche landwirtschaftliche Produktivität in Industrie- und Entwicklungsländern.
Vergleicht man die Wertschöpfung (Pro-Kopf-Produktion) je Beschäftigten in der Landwirtschaft, erreichen die afrikanischen Länder südlich der Sahara rund ein Prozent (!) der Produktivität in den Industrieländern.
Kein Wunder, werden doch in Afrika nur vier Prozent der landwirtschaftlichen Flächen bewässert, und zwar nicht aus Wassermangel, sondern wegen fehlender Investitionen in Bewässerung und Infrastruktur.
Selbst in einem „Schwellenland“ wie Indien arbeiten von den 1,1 Milliarden Menschen mehr als 50 Prozent in der Landwirtschaft, in Europa und den USA sind es drei Prozent.
Weltweit hat die Automatisierung der Landwirtschaft seit etwa 1950 die Ungleichheit der Produktivität zwischen manueller Landwirtschaft und der erfolgreichsten motorisierten Landwirtschaft um den Faktor 50 verstärkt.
Wir müssen es nur wollen!
Angenommen, wir würden morgen aufwachen, und die Welt wäre nicht mehr kapitalistisch. Was würde sich ändern? Zunächst würde der akute Hunger innerhalb kürzester Zeit komplett beseitigt werden. Einfach, indem man die, weltweit gesehen, im Überfluss vorhandenen Nahrungsmittel an die Hungernden verteilt. Die Spekulation mit Nahrungsmitteln würde sofort unterbunden, die Spekulanten enteignet.
Eine demokratische Welternährungskonferenz mit Delegierten aus allen Ländern, Bauern, Verbraucherorganisationen, Experten würde eine Bestandsaufnahme machen, Perspektiven und Konsequenzen diskutieren:
Welchen Bedarf gibt es an welchen Nahrungsmitteln? Welche Flächen stehen weltweit zur Verfügung? Wo liegen Flächen brach, wo können Flächen wieder nutzbar gemacht werden, die in der Vergangenheit durch rücksichtlose Bewirtschaftung verödeten? Die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft würden allen Ländern unmittelbar und kostenlos zur Verfügung gestellt. Sämtliche Patentrechte auf Saatgut würden aufgehoben.
Die Beendigung aller Kriege würde gewaltige Ressourcen frei werden lassen. Flüchtlinge könnten in ihre Heimat zurückkehren und den Boden wieder bewirtschaften. Verminte Felder würden geräumt und wieder bearbeitet.
Man muss kein Agrarökonom sein, um zu erkennen, dass eine solche Welt ohne Hunger möglich ist.
Und man muss nicht einmal Marxist sein sein, um zu verstehen, dass diese Perspektive im Kapitalismus nie Realität werden wird.