Thailand - Lehren aus dem Kampf der Massen für Demokratie im Jahr 2020

Qiu Qing, Socialist Action (ISA in Hong Kong)

Unabhängig von der künftigen Entwicklung haben die Massendemonstrationen in Thailand die politische Landschaft des Landes bereits jetzt für immer verändert. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels erlebt Thailand seit Monaten beeindruckende Proteste. Die Regierung führte umfangreiche Repressionen und Zensur ein. Es wurden nicht nur regierungskritische Stimmen verboten, sondern auch die Liveübertragung von Demonstrationen oder die Veröffentlichung von Bildern oder Videos der Demonstrationen im Internet.

Das Regime schnitt sogar einige internationale satellitengestützte Medien ab, um die Nachrichten zu blockieren. Gleichzeitig verlieh es der Militärpolizei umfassende Befugnisse, erlaubte ihr, die Demonstrant*innen direkt und ohne strafrechtliche Verfolgung zu verhaften und festzuhalten, verweigerte den Verhafteten das Recht, eine*n Anwält*in zu kontaktieren oder Familienangehörige zu sehen, und befreite die Exekutive von der rechtlichen Verantwortung für die Folgen dieser Aktionen. Bis November hatten es die Massen noch mit Militär und Polizei auf den Straßen zu tun, wie die antiautoritäre Bewegung in Hongkong über einen langen Zeitraum. Ähnlich wie die Bewegung in Hongkong stellte das thailändische Volk drei Hauptforderungen: die Auflösung des Parlaments, die Beendigung der Unterdrückung des Volkes und die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Laut einer im August durchgeführten Umfrage unterstützen 54%, 59% bzw. 63% des Volkes diese drei Forderungen.

Auch zum Zeitpunkt, in dem dieser Artikel geschrieben wird, geht die Protestbewegung in Thailand weiter. Die Regierung hat versucht, durch einen erhöhten Gewalteinsatz einen vernichtenden Schlag zu führen und versucht, die Massen durch Gewalt und Verbote zu zerstreuen, kombiniert mit falschen Zugeständnissen, um die allgemeine Wut zu spalten und zu lindern. Zur gleichen Zeit, am 18. November, lehnte die thailändische Nationalversammlung den Änderungsentwurf ab, der von dem gesamten Komitee zur Verfassungsänderung vorgelegt wurde. Der Änderungsentwurf selbst schlug nur eine kleine und symbolische Einschränkung der Macht des Königs von Thailand vor. Dies bedeutet, dass die derzeitige Regierung der thailändischen Militärjunta und der thailändische König entschlossen sind, sich den Forderungen der Demonstrant*innen zu widersetzen.

Gleichzeitig begann die Regierungspartei auch den thailändischen König zu mobilisieren, um Gegendemonstrant*innen auf die Straße zu schicken. Natürlich sind Anzahl und Dynamik im Vergleich zum Oppositionslager praktisch unbedeutend.

Seit Februar halten thailändische Studierende Demonstrationen an ihren Unis ab. Im Juli, nachdem die Menschen gewaltsam von der Polizei unterdrückt wurden, weil sie gegen den unzureichenden Umgang der thailändischen Regierung mit der Pandemie protestierten, entzündeten sich die Massenproteste. Die thailändische Regierung erließ wiederholt Verbote und versuchte, die Proteste mit Gewalt zu unterdrücken. Doch die Massen ignorierten die Verbote und die Repression und gingen auf die Straße.

Im August demonstrierten mehr als 100.000 Menschen in Bangkok. In mehr als 20 Provinzen in ganz Thailand, von Süden bis Norden, brachen Demonstrationen aus, darunter Chiang Mai, Ubon Ratchathani, Chonburi und Nakhon Ratchasima. Der 19. September war der Jahrestag des Militärputsches von 2006, der die Regierung stürzte. 100.000 Menschen strömten auf die Straßen von Bangkok. Am 14. Oktober jährte sich zum 74. Mal der Massenaufstand gegen die Militärdiktatur in den 1970er Jahren, und es versammelten sich wieder ähnlich viele Menschen. Die Demonstrant*innen belagerten einmal die Autokolonne des Königs, riefen "Repay my taxes!" und zeigten den Mitgliedern der königlichen Familie in der Autokolonne die Drei-Finger-Geste (der erhobene Daumen, Zeige- und Mittelfinger, übernommen aus „Die Tribute von Panem“ sind in Thailand das Symbol der Ablehnung des Militärregimes; Anm. d. Übers.).

Schüler*innen der Mittelschule (Schuljahre 6 bis 9; Anm. d. Übers.) sind das Rückgrat der Bewegung in Thailand, und junge Frauen spielen eine wichtige Rolle. Die Schüler*innen hoben bei den Eröffnungsfeiern ihrer Schulen die drei Finger zum Protest. Mittelschüler starteten sogar einen Protest beim Bildungsministerium. Als der Bildungsminister versuchte, die Schüler zu beschwichtigen, wurde er als "Handlanger des Diktators" bezeichnet. Im Gegensatz zur vorherigen Generation, die brutale Repressionen erlebte, spürt die neue Generation diese Angst nicht, so wie auch die radikalisierte linke Jugend in China einen Teil ihrer Angst vor den Repressionen des 4. Juni 1989 verloren hat. Aktivist*innen für LGBT-Gleichberechtigung und Abtreibungsrechte schlossen sich ebenfalls den Protesten an, und ebenfalls anwesend waren Gruppen, die für das Recht auf Selbstbestimmung in den südlichen drei Provinzen der muslimisch-malaiischen Region kämpfen.

Alle drei Forderungen stellen die Autorität des Königshauses direkt in Frage. Es ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass sich die Massenbewegung traut, die Königsfamilie öffentlich zu kritisieren. Aber gleichzeitig ist sie den Beschränkungen der kapitalistischen Machtstruktur der Monarchie und der derzeitigen undemokratischen Militärregierung nicht völlig entkommen. Einige Demonstrant*innen sagten immer noch, dass sie den Fortbestand des thailändischen Königshauses "unterstützen", wenn die Regierung und die Königsfamilie zu Zugeständnissen bereit sind. Einige der progressiveren Jugendlichen befürworten eine Republik für Thailand.

Die Arbeiter*innenklasse in Thailand hat sich an dieser Bewegung nicht mit einer eigenständigen Identität und einem eigenen Programm beteiligt, sondern nur als Unterstützer*innen von Studierendengruppen und als Teil der Demonstrant*innen auf den Straßen. Da die Arbeiter*innenbewegung in ihrer historischen Entwicklung entmutigt wurde, hat sich die Situation verkompliziert. Das bedeutet, dass die Oppositionsbewegung die mächtigste Waffe gegen das Regime, Streiks, nicht eingesetzt hat; aber die Arbeiter*innenklasse ist der Kern der Organisation der neuen Gesellschaft. Aufgrund der Tatsache, dass die Bewegung noch nicht auf ein höheres Kampfniveau gehoben wurde, gepaart mit der unnachgiebigen Haltung der Behörden und der bewaffneten Unterdrückung durch das Militär und die Polizei, ist der Kampf im Dezember in eine Pattsituation geraten. Es ist noch unklar, wie lange die derzeitige Situation andauern wird, bevor die Bewegung ihren Höhepunkt erreicht.

Der Hauptauslöser für den Protest ist, dass Thailand 2014 seit eine Militärdiktatur ist und alle demokratischen Wahlen gestoppt hat. Letztes Jahr hat Thailand nach fünf Jahren Militärdiktatur die Parlamentswahlen wieder zugelassen. Die Ergebnisse der Wahlen lösten jedoch heftige Kontroversen aus. Der ehemalige Putschführer Prayut wurde durch Wahlbetrug an die Macht gebracht. Die neue Partei "Future Kadima", die zum ersten Mal an den Parlamentswahlen teilnahm, erhielt etwas mehr als ein Jahr nach ihrer Gründung 6,27 Millionen Stimmen (18%) und gewann 81 der 500 Sitze in der Nationalversammlung, was sie auf einen Schlag zur drittgrößten Partei machte.

Wie die neuen Parteien, die in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern entstanden sind, zog die Future Kadima Party mit ihrem Anti-Establishment und ihrem jugendlichen Auftreten schnell eine große Zahl von Unterstützer*innen an. Anders als die "For Thai Party" und die "Thai Rak Thai Party" des Thaksin-Konzerns, die verschieden viel Unterstützung in den Städten und auf dem Land haben, gelang es der Kadima-Partei in der Vergangenheit, die Stimmen der Konservativen in vielen städtischen Gebieten zu gewinnen. Insbesondere kleinbürgerliche Selbstständige, die früher gut situiert waren, waren aufgrund des wirtschaftlichen Abschwungs Thailands in den letzten Jahren in diesem Jahr noch stärker von der Epidemie betroffen, von der Königsfamilie völlig enttäuscht und wandten sich in großer Zahl der Kadima zu. Als die Regierung die Kadima in Zukunft verbot, war das der Anlass für Jugenddemonstrationen.

Die politische Situation in Thailand erweckt oft den Eindruck, dass Militärputsche an der Tagesordnung sind. Tatsächlich hat es in Thailand von 1947 bis 2014 17 Militärputsche gegeben. Die thailändische Königsfamilie hat sich direkt oder indirekt an den bisherigen Putschen beteiligt, meist um die zivile Regierung zu stürzen, die die Interessen der Königsfamilie oder des Militärs bedrohte. In den letzten Jahren waren die bekanntesten Putschs natürlich die gegen die Thaksin-Familie und politische Gruppen 2006 und 2014. Offensichtlich haben die thailändische Armee und die königliche Familie ein ziemlich solides Band gemeinsamer Interessen, aber das wahre Machtverhältnis liegt in der Verbindung zwischen dem Militär und seinem riesigen Kapital.

Die thailändische Königsfamilie selbst führt einen äußerst luxuriösen und dekadenten Lebensstil. Sie hat ein Vermögen von etwa 43 Milliarden US-Dollar angehäuft. Es ist die reichste königliche Familie der Welt. Im Gegensatz dazu verfügt das britische Königshaus nur über 520 Millionen US-Dollar. Selbst saudische Königshaus kommt auf „nur“ 18 Milliarden US-Dollar, was immer noch weniger als die Hälfte des thailändischen Königshauses ist. Gleichzeitig ist die Korruption der thailändischen Armee ebenso erschreckend. Die thailändische Armee ist eine der weltweit größten Gruppen, die mit Menschenhandel und Prostitution Geschäfte macht. Laut dem "Human Trafficking Report" des US-Außenministeriums aus dem Jahr 2014 ist Thailand das Land, in dem der Menschenhandel am weitesten verbreitet ist. Der Bericht zeigt, dass ein Erwachsener in Thailand für etwa 2.000 US-Dollar gehandelt werden kann, und die Menschenhändler verdienen 320 US-Dollar. Der Rest wird von der Königlich Thailändischen Marine und der Küstenwache abgenommen.

Seit der Thronfolge des jetzigen Königs von Thailand, Wajiralongkorn, haben sein absurdes Privatleben und seine politische Inkompetenz die königliche Autorität in den Keller sinken lassen. Besonders nach dem Ausbruch von Covid-19 im Jahr 2020 floh Vajiralongkorn mit zwanzig Konkubinen nach München und ließ die nationalen Angelegenheiten hinter sich. Diese Nachricht hat das Ansehen der königlichen Familie völlig erschüttert und den Zorn des thailändischen Volkes weiter entfacht.

Das Bewusstsein der Massen hat sich gewaltig verändert, und es ist nun notwendig, ein klares klassenorientiertes Programm weiter vorzuschlagen. Insbesondere die großen Städte Thailands haben unter dem Einfluss der Epidemie eine wirtschaftliche Depression erlebt, eine große Anzahl inländischer kleiner und mittlerer Unternehmen ist in Konkurs gegangen, und Menschen haben massenhaft haben ihre Arbeit verloren. Auch die einheimischen Industriearbeiter*innen stehen vor einer Krise mit sinkenden Gehältern, schlechteren Lebensbedingungen und Massenentlassungen. Diese Probleme können nicht von der Thaksin-Gruppe, dem Telekommunikations-Tycoon der 2. Generation, Tanathon, oder irgendeiner anderen Partei gelöst werden. Auch die kapitalistische Elite wird sie nicht lösen.

Die linken Kräfte in Thailand hatten in den 1950er und 1970er Jahren einen beträchtlichen Einfluss und wurden danach vom thailändischen Königshaus und der Armee mit aktiver Unterstützung des US-Imperialismus brutal unterdrückt. Die arbeitenden Menschen in Thailand sollten jetzt die Gelegenheit zum Wiederaufbau nutzen. Die politischen Kräfte der linken Gewerkschaften und der Arbeiter*innenklasse können, indem sie den Kampf für demokratische Rechte vorantreiben und die wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiter*innenklasse vortragen, einen Sieg gegen das autokratische Establishment erringen und dafür sorgen, dass die siegreichen Ergebnisse nicht vom einheimischen Großkapital und dem Big Business vereinnahmt werden.

Tatsächlich ist die königliche Familie seit dem Sturz der absoluten Monarchie Thailands durch die Revolution im Jahr 1932 zu einem Werkzeug geworden, das dem Willen des Militärs und der Kapitalist*innen dient, während ihre eigene unabhängige Macht tatsächlich sehr schwach ist. Natürlich ist es richtig und vernünftig, die Privilegien der Königsfamilie zu kritisieren, aber was die Massen wirklich herausfordern wollen, ist das kapitalistische System, das hinter dem Militär, dem Großkapital und der Königsfamilie steht. Dieser jugendliche Aufstand erfordert eine organisierte demokratische Struktur und eine Verbindung mit den arbeitenden Menschen. Das bedeutet auch, die Skepsis gegenüber politischen Parteien zu überwinden und mit den Arbeiter*innen zusammenzuarbeiten, um eine neue kämpferische, linke Partei aufzubauen, die die Gesellschaft verändern soll.