Ich bin Lärm - Rezension zum Dokumentarfilm über Joan Baez

“Jeder hat drei Leben: das öffentliche, das private und das geheime” (Gabriel García Márquez) - mit diesem Zitat wird das eindrucksvolle Porträt der Folk-Legende und Aktivistin Joan Baez mit der Dokumentation “I Am a Noise” eingeführt. Jahrzehntelang hat sie mit ihrer Musik und ihrer unverwechselbaren Stimme den Soundtrack von Protestbewegungen geschaffen; der Film begleitet sie auf ihrer Abschiedstournee und gibt intime Einblicke in ihre Karriere, ihren Aktivismus und ihr - oft unerträglich schweres - Leben. 

Ihre Politisierung begann als Kind und Jugendliche, konfrontiert - auch aufgrund ihrer mexikanischen Wurzeln - mit täglichen Rassismuserfahrungen in der amerikanischen Gesellschaft und den Auswirkungen des Kalten Krieges. Mit 16 Jahren weigerte sie sich, das Klassenzimmer aufgrund einer Luftschutzübung zu verlassen, woraufhin sie in der Presse als “kommunistische Infiltratorin” bezeichnet wurde. Sie beschreibt im Film, wie sie immer von dem tiefen Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit und Frieden getrieben wurde - sie bezeichnete diesen Kampf als den “wahren Kern des Lebens”, noch größer für sie als die Musik. 

Ihr unermüdliches Eintreten gegen Unterdrückung war immer ein integraler Bestandteil ihres musikalischen Schaffens. Sie nutzte ihre Popularität gezielt, um die schwarze Bürger*innenrechtsbewegung und die Friedensbewegung zu unterstützen und aufzubauen. Tief inspiriert und beeinflusst von Martin Luther King begleitete sie ihn in die Südstaaten und sprach sich gegen jeden einzelnen rassistischen Gewaltakt und für ein Ende der “Rassentrennung” aus. Sie sagte in einem Interview aus dem Jahr 2018 mit dem SPIEGEL über diese Zeit:

“Bei der ersten Tournee 1961 wunderte ich mich, dass nur Weiße im Publikum saßen. Bis ich in meinem Vertrag las, dass nur Weiße zugelassen waren. Im darauffolgenden Jahr ließ ich die Verträge ändern, aber es kamen immer noch keine Schwarzen, weil die mich nicht kannten. Ich bin dann an afroamerikanischen Schulen und Universitäten aufgetreten als erste weiße Sängerin. Bis heute kommen Leute zu mir und sagen, dass sie damals »We Shall Overcome« gesungen hätten, Hand in Hand mit einem Weißen – zum ersten Mal in ihrem Leben.”

Aufgrund ihrer Positionierung und ihrer Aktionen gegen den Vietnam-Krieg wurde sie von der Regierung als “Sicherheitsrisiko” eingestuft, verhaftet und geächtet. Sie wurde zu einem der populärsten Gesichter der Bewegung, weit über die USA hinaus. Ihr Aktivismus endete nicht mit der Zeit der 68er: In den 80er Jahren reiste sie durch Lateinamerika und trotzte den Militärdiktaturen und Auftrittsverboten, trat während der “Intifada” in Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung in Israel, der Westbank und Gaza auf und besuchte 1992 das kriegszerstörte Sarajewo. Ihre Lieder wurden zu Hymnen einer ganzen Generation, die radikal nach Frieden, Befreiung und dem Ende des Kapitalismus strebte. 

Die Stärke einer Frau

Als erstes weibliches Idol der Protestkultur der 60er Jahre hatte sie nicht nur oft das Gefühl, dass “das Gewicht der ganzen Welt auf ihren Schultern lag”, sondern auch mit dem Chauvinismus und Sexismus innerhalb der sozialen Bewegungen zu kämpfen - eine Zeit, in der sich die zweite Welle der Frauenbewegung entwickelte. Nicht selten wurde sie auf ihr Äußeres sowie auf ihre Beziehungen zu Männern reduziert. Während sie es war, die Bob Dylan groß machte, drängte seine Berühmtheit sie in den Hintergrund, sie bezeichnete ihre Zeit mit Dylan als “wunderschön und gleichzeitig schrecklich”, die Kreise, in denen sie sich damals bewegte als “Boys Club”, in dem sie keinen Platz finden konnte. All diese Erfahrungen verarbeitete sie auch lyrisch, sie schrieb selbst Songs und kreierte Eigenkompositionen. Sie sprengte nicht nur persönlich und politisch, sondern auch musikalisch Grenzen, experimentierte mit den unterschiedlichsten Genres, interpretierte traditionelle Lieder in den unterschiedlichsten Sprachen neu.

In einem Interview mit Marc Maron 2023 beschreibt sie genauso wie im Film, wie sie durch die Geburt ihres Sohnes eine “gute Ehefrau und Mutter” sein wollte und dadurch immer wieder in innere Widersprüche geriet. Sie sagt in diesem Interview, dass sie rückblickend, anders als andere Frauen ihrer Generation, “nicht genug von dem damaligen feministischen Bewusstsein” hatte, um diese Dynamiken emotional durchdringen und verstehen zu können. 

Über ihre Verbindung zu Bob Dylan sagte sie unter anderem auch:

“Wenn Sie jetzt mein erstes Album von 1960 hören: nur Liebesballaden! Ich hatte mich in einen Harvard-Studenten verliebt, Politik wurde für anderthalb Jahre ausgeblendet. Als ich fürs zweite Album dann Protestsongs aufnehmen wollte, fehlte mir das Material. Das war genau der Moment, als Dylan in mein Leben trat. Später schrieb er solche Songs für mich in einer halben Stunde, abends vor seiner Schreibmaschine, zwischen zwei Glas Rotwein. Dylan hat sich dann bald von politischen Liedern wegbewegt. Ich glaube, es war zu viel für ihn. Was weiß ich.”

Das psychische Leiden als Politikum

Der Film wird von Tonbandaufnahmen begleitet: Erinnerungen von Baez und ihrer Familie, aber auch von Therapiesitzungen und Aussagen ihres Therapeuten. Die Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen und Heilung steht im Zentrum des Films. Damit bricht er auch heute noch ein Tabu - denn während es verglichen mit den 50er Jahren, in denen Baez zum ersten Mal diagnostiziert wurde, eine gestiegene Sensibilität und Offenheit im Umgang mit psychischen Belastungen gibt, sind insbesondere Erkrankungen wie Schizophrenie, multiple Persönlichkeitsstörung und ähnliche noch immer mit massiven Stigmatisierungen behaftet. 

Seit ihren ersten Auftritten wurden diese immer wieder von Panikattacken und Angstzuständen begleitet. Baez ließ sich nichts anmerken, vertraute sich nur ihrer Schwester an - bis zu Zusammenbrüchen. Im Film beschreibt sie ihr Leben als ständiges Schwanken zwischen “Spaß und Kollaps”. Ihre intime Verbindung zu ihren Schwestern und ihrer Familie war von Liebe und Zusammenhalt geprägt - und gleichzeitig einem dunklen Schatten, das auf ihr lastete. Auf der Suche nach dem Kern ihres Leidens erinnerte sie sich irgendwann an Missbrauchserfahrungen, in die auch ihr Vater verwickelt war. Die Dokumentation liefert ab diesem Moment eine tief erschütternde Schilderung dessen, was sehr viele von Missbrauch Betroffene erleiden: Eine Verzerrung ihrer Wahrnehmung und Erinnerung, gaslighting, den Versuch, in Baez Fall ihrer Eltern, die Erfahrungen als “gelogen” darzustellen. Ohne es explizit zu machen, verwirklicht der Film damit den prägenden Satz der zweiten Welle der Frauenbewegung “Das Private ist politisch” und spannt den Bogen zurück zum eröffnenden Márquez-Zitat. Er verbindet die drei Ebenen des Lebens von Joan Baez und entwickelt damit eine politische Dimension, die über ihren weit bekannten expliziten politischen Aktivismus hinausreicht. 

Mit über 80 Jahren wird Baez noch immer nicht müde, gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung aufzustehen. “Go make good trouble” (“Geht und stiftet gute Unruhe”) gibt sie der jungen Generation mit. Ihre Positionierungen heute, unter anderem gegen Waffengewalt in den USA, für die Frauenbewegung im Iran, gegen den Krieg in der Ukraine und in Gaza verlaufen nicht ohne Widersprüche. Vor den Wahlen 1964 lehnte sie die Anfrage des zukünftigen demokratischen Präsidenten Johnson, die “Jungen Demokraten für Johnson” zu unterstützen, aufgrund der Haltung der Demokraten zum Vietnam-Krieg ab. Trotz ihres späteren Engagements für linke Politiker*innen wie Bernie Sanders unterstützte sie Barack Obama und Hillary Clinton in der Hoffnung, dass die demokratische Partei einen Unterschied bewirken könnte - ähnlich wie viele andere beeindruckende Ikonen der sozialen Bewegungen rund um 68. Diese “kleinere Übel” Logik drückt auch das Fehlen einer echten Alternative auf der Straße, in den Betrieben und im Parteiensystem aus. Gerade deshalb bleibt Baez’ Wirken dennoch unerlässlich für heute - eine Zeit, in der angesichts neuer Kriege und der blutigen Rolle des Imperialismus, der Zuspitzung rassistischer Unterdrückung und einem neuen Aufstieg der Rechten die Lehren der (Jugend-)Bewegungen der 60er und 70er Jahre wichtiger sind denn je, um genau so eine Alternative aufzubauen.