20 Jahre Kapitalismus in Osteuropa

Hoffnungen, Entäuschungen und düstere Zukunftsperspektiven
Sonja Grusch

Eine Homepage der österreichischen Regierung schreibt vom "europäischen Glücksjahr 1989". Vor 20 Jahren fiel in Berlin die Mauer und der "Eiserne Vorhang".  Das bedeutete das Ende der stalinistischen Regimes in Osteuropa und einer geplanten Wirtschaft. Der Kapitalismus setzte zum Siegeszug an und posaunte seine angebliche Überlegenheit heraus. Der damalige deutsche Kanzler Kohl fantasierte von "blühenden Landschaften". Wie sieht die Bilanz
Die - inzwischen zum Teil wieder ausbleibenden - russischen Nobeltouristen in Kitzbühl können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Situation für die Mehrheit der Menschen in Osteuropa und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nicht rosig ist. Selbst der Wunsch nach demokratischen Grundrechten - eine der zentralen Forderungen der Revolutionen 1989-91 - wurde nur teilweise erfüllt. Russland ist von demokratischen Grundrechten weit entfernt, in Ungarn terrorisieren faschistische Schlägerbanden Roma, in der Slowakei werden Betriebsräte entlassen und in der Tschechischen Republik wird eine kommunistische Jugendorganisation einfach verboten.

Vom Regen in die Traufe

Es ist richtig, dass der Stalinismus deshalb zusammenbrach, weil dieses System nicht mehr in der Lage Ökonomie und Gesellschaft weiter zu entwickeln. Demgegenüber zählt die Behauptung, dass die heutigen Mißstände und Probleme in Osteuropa auf die Periode vor 1989 zurück zu führen wären, längst zum Arsenal neoliberaler Demagogie. Die Abschaffung der Planwirtschaft bedeutete nämlich real zunächst eine ökonomische und soziale Katastrophe für die Region, welche in ihrem historischen Ausmaß nur mit den Kriegszerstörungen vergleichbar ist. So lag in Litauen das Produktionsniveau nach fünf Jahren Kapitalismus um 75% unter dem Niveau von 1989. In Bulgarien gingen 1989-95 die Realeinkommen um fast 70% zurück, der Lebensstandard fiel um 40 %. Das Sozialsystem, insbesondere das System der Kranken- und Rentenversicherungen, brach weitgehend zusammen. Überall kam es zu einer Öffnung für westliches Kapital, das freudig hereinströmte, den Markt sichtete, viel aufkaufte, eine Reihe von Betrieben schloss (um die Konkurrenz los zu werden wurden 1990-98 ca 40% der Industrie vernichtet) und sich v.a. über die billigen Löhne bei gleichzeitig qualifizierten Arbeitskräften, ein Erbe des "alten" Systems, freute (der rumänische Mindestlohn liegt bei 150 Euro). Dem Zusammenbruch und der tiefen Krise folgten Wachstumraten, welche zwar für mehrere Jahre jene westlicher Staaten übertrafen. Weder ökonomisch und schon gar nicht sozial war dieser Aufschwung allerdings zu irgend einem Zeitpunkt ein kapitalistisches "Wirtschaftswunder". Denn selbst schönfärberische Prognosen gingen stets von jahrzehntelangen "Übergangsfristen" aus, nach denen erst der Anschluss an die schwächsten Staaten des Westens gelingen würde.

Aufschwung auf Pump

Gleichzeitig stand die Weltwirtschaft schon in den letzten beiden Jahrzehnten auf wackeligen Beinen. Sie hantelte sich von Krise zu Krise, konnte aber den international parallelen Einbruch, den wir heute erleben, hinauszögern. Demgegenüber schien Osteuropa schließlich sogar die Funktion eines Wachstumsmotors zu übernehmen. Die Basis für den teilweise starken Anstieg bei Konsum und Investitionen lag aber hier nicht an einer positiven Strukturentwicklung von Ökonomie und Gesellschaft, sondern an einem rapiden Anstieg der Kredite an private Unternehmen und Haushalte sowie an den Überweisungen der im Ausland arbeitenden OsteuropäerInnen. Wirtschaftlich am relativ erfolgreichsten entwickelte sich bezeichnenderweise nur der Rohstoffsektor; und damit zusätzlich die extreme Abhängigkeit vom Weltmarkt. Osteuropas Industrie wurde v.a. zur verlängerten Werkbank für die Auto-, Chemie- und Elektroindustrie. Der Traum von einem künftig halbwegs vernünftigen Lebensstandard für die Bevölkerung scheint nun mit der Krise entgültig ausgeträumt. Der neue lettische Regierungschef Valdis Dombrovskis will die Gehälter von LehrerInnen um 20 %, jene der Beschäftigten im Gesundheitswesen um 10% kürzen. In der Slowakei ist die Bauproduktion im Jänner 09 um 25,6 % niedriger ausgefallen als noch vor einem Jahr. In Polen wird geschätzt, dass mindestens 1/3 der Bauarbeiter ihren Job verlieren werden.

Beispiel Russland: Armut und Diktatur

Nach der Restauration des Kapitalismus Anfang der 1990er Jahre kam es 1998/99 zur Russlandkrise. Erst nach der Machtübernahme von Putin folgte Anfang des neuen Jahrtausends ein Aufschwung der Wirtschaft. Dieser war im Wesentlichen von den hohen Rohstoffpreisen gestützt und verlief regional und sozial sehr unterschiedlich. In einigen Großstädten und ölreichen Regionen gab es Wachstum, in anderen de-Industrialisierung und Massenarbeitslosigkeit. Die Einkommensunterschiede haben stark zugenommen und der Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit ist niedriger als vor der kapitalistischen Restauration 1991. Die düsteren Zukunftsaussichten drücken sich in einer sinkenden Geburtenrate, einer steigenden Selbstmord- und Alkohol/Drogenmissbrauchsrate aus. Der Verfall der Rohstoffpreise im Zuge der Wirtschaftskrise hat nun dramatische Folgen für die Russland. Die Industrieproduktion ging im Jänner um 16% zurück, in der Automobilindustrie sogar um 80%. Es wird geschätzt, dass rund 50% der Banken die aktuelle Krise nicht überleben wird. Über sechs Millionen Menschen sind schon jetzt - am Beginn der Krise - arbeitslos, nur 1,4 Millionen davon erhalten ein Arbeitslosengeld. Die letzten 20 Jahre haben gezeigt, dass weder Jelzins Modell der raschen und drastischen Privatisierung noch Putins Modell von einer starken staatlichen Einflussnahme in die Wirtschaft in der Lage waren und sind, den Menschen in Russland ein gutes Leben zu ermöglichen.

Beispiel Ungarn: bringt’s das westliche Modell?

Im Gegensatz zu Russland, dass auch Aufgrund seiner Größe und seines Rohstoffreichtums auf eine eigenständige (Wirtschafts-)Politik setzt, orientierte sich Ungarn nach der Wende 1989 rasch am Westen und seinen Institutionen: 1999 Beitritt zur Nato, 2004 zur EU. Die Kaufkraft der UngarInnen liegt aber immer noch um 40% unter dem EU-Durchschnitt; nichts desto trotz sehen westliche "Experten" zu hohe Löhne als zentrales Problem der Volkswirtschaft. Die Wirtschaft ist extrem exportabhängig. Über 50% der Exporte entfallen auf die Bereiche Maschienenbau und Fahrzeugindustrie - und sind damit von der Krise der Autoindustrie massiv betroffen. In den letzten Jahren wurden über 50.000 Stellen im Öffentlichen Dienst "eingespart". Aber auch dieses Rezept ist nicht aufgegangen. Der drohende Staatsbankrott wurde zwar vorübergehend abgewendet, aber die soziale Misere spitzt sich zu.

Trübe Aussichten

Die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt, dass die jungen kapitalistischen Staaten nicht nur an den "normalen" kapitalistischen Problemen kranken, sondern in vielen Bereichen die Struktur und damit auch die Probleme haben, die  vor allem mit (ehemaligen) Kolonialstaaten vergleichbar sind. Ihre Wirtschaft ist stark exportorientiert, die Inlandsnachfrage spielt eine geringe Rolle und ausländische Unternehmen dominieren die Wirtschaft oder zumindest einzelne Sektoren. Die EU und der Euro werden die Situation nicht retten können, sondern zwingen diese Volkswirtschaften in ein Korsett welches keinerlei Handlungsspielräume zu radikalen Sparprogrammen zulassen soll. Dass die Perspektiven nicht rosig sind, sehen auch die Menschen vor Ort. In einer im Juli 2008 erstellten Studie von GfK Custom Research (also noch vor Ausbruch der Krise) waren in Ungarn gerade mal 16% der ungarischen Jugendlichen "sehr zufrieden mit Beruf/beruflichen Aussichten". Auch mit der Demokratie ist es nicht weit her: gerade mal 4% der tschechischen Jugendlichen waren "Sehr zufrieden mit Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme".  Besonders gefährlich an der Situation ist, dass diverse rechtsextreme und faschistische Gruppierungen die Angst vor der Zukunft missbrauchen, um rassistische Hetze und auch Gewalt zu schüren. Auch die etablierte Politik setzt auf "Teile und Herrsche" und lässt immer wieder durch rassistische Sager und Diskriminierung aufhorchen. Da wundert es dann auch nicht, wenn in Ungarn faschistische Schlägertrupps und Mörder ohne Probleme agieren können.
Die Bilanz von 20 Jahren Kapitalismus in Osteuropa ist negativ: Die soziale Situation ist eine Katastrophe, die Perspektive negativ, rassistische und nationalistische Spannungen und Konflikte nehmen - auch mit staatlicher Unterstützung - zu. Aber bei all dieser negativen Bilanz dürfen wir nicht vergessen, dass es auch andere Seiten gibt: GewerkschafterInnen, die Proteste organisieren, Menschen die gegen den Rassismus auf die Strasse gehen und eine Krise, die die letzten Illusionen in den Kapitalismus zerschlagen. Unsere Aufgabe hier, in Österreich, ist es, die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung und antirassistische und antikapitalistische Kräfte in Osteuropa aktiv zu unterstützen.

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