VORWÄRTS-Schwerpunkt zu Identitätspolitik

Christoph Glanninger, Sarah Moayeri, Sebastian Kugler, Sonja Grusch

Schubumkehr oder Kurswechsel?

Hintergrund der Debatten um “Identitätspolitik”: Starke soziale Bewegungen & Schwäche der Linken.

In den letzten Jahren haben sich international beeindruckende Bewegungen gegen spezifische Unterdrückung entwickelt: Proteste gegen Sexismus, Rassismus und nationale Unterdrückung nehmen weltweit zu. Gleichzeitig entwickelt sich in der deutschsprachigen Linken eine Diskussion, ob sich “die Linke nur noch um Identitätspolitik kümmert”. In diesem Schwerpunkt zeigen wir den marxistischen Zugang im Kampf gegen Unterdrückung auf.

Spätestens seit der Krise 2008 ist das Versprechen des Kapitalismus, langfristigen Fortschritt in Richtung einer gerechteren Welt zu bringen, als Lüge entlarvt, Ungleichheit und Unterdrückung nahmen sogar zu. Doch Arbeiter*innenbewegung und Linke sind bis heute nicht in der Lage, diesen Erfahrungen die gesamtheitliche Perspektive eines Kampfes für eine Systemalternative zu geben. Mangels dieser Alternative haben sich seit 2008 viele Bewegungen rund um konkrete Unterdrückungserfahrungen entwickelt. Obwohl #metoo von Promis angestoßen wurde, haben es Millionen Frauen weltweit genutzt, um auf ihre Sexismus-Erfahrungen im Alltag und am Arbeitsplatz aufmerksam zu machen - inklusive Streiks gegen Sexismus. Die Black Lives Matter (BLM) Bewegung 2020 war der größte Massenprotest in der US-Geschichte und führte zu einer weltweiten Protestwelle.

Proteste und Politisierung rund um spezifische Unterdrückung fließen aus der realen Unterdrückung, die Frauen, Migrant*innen, LGTBQ-Personen und andere (vor allem aus der Arbeiter*innenklasse) täglich erfahren. Frauen halten durch unbezahlte Haus- und Carearbeit und systemrelevante aber unterbezahlte Arbeit das System am Laufen und sind gleichzeitig mit immer stärkerer Objektifizierung durch Medien und Sexindustrie konfrontiert. Migrant*innen werden in allen Bereichen des Lebens benachteiligt, von Schule über Arbeitssuche bis hin zum Wohnungsmarkt. Niemand will für das, was man “ist”, diskriminiert werden. Aus dem Wunsch, nicht schlechter behandelt zu werden, kommt als eine Reaktion oft eine verständliche “Schubumkehr”: Die tägliche Erfahrung mit Diskriminierung und das Gefühl, auf Herkunft, Religion, Aussehen, Geschlecht oder sexuelle Orientierung reduziert zu werden, kann dazu führen, dass genau diese Merkmale ins Zentrum des Denkens und der politischen Aktivität rücken. 

Vor diesem Hintergrund hat sich auch die Popularität und Diskussion rund um “Identitätspolitik” entwickelt. Rechte (und leider auch einige Linke) nutzen das Wort als Kampfbegriff gegen jeden Widerstand von Unterdrückten und versuchen, den Kampf an sich dadurch lächerlich zu machen. Wir verstehen unter Identitätspolitik unterschiedliche Theorien, die ab den 1980ern in linken und v.a. akademischen Kreisen im Zuge der Enttäuschung vom etablierten “Marxismus” stalinistischer oder sozialdemokratischer Prägung entstanden. Aber erst durch die allgemeine gesellschaftliche Politisierung als Folge der Krise 2008 hat Identitätspolitik Bedeutung bekommen. Das ist keine Überraschung: Identitätspolitik konzentriert sich auf die Darstellung und Beschreibung der Unterdrückung, die Menschen tagtäglich erfahren. Sie entspricht so auch bis zu einem gewissen Grad der ersten Phase der Politisierung und Entwicklung von vielen Bewegungen gegen spezifische Unterdrückung.

Die Popularität von identitätspolitischen Ideen drückt auf verzerrte Art und Weise das gestiegene Bewusstsein rund um spezifische Unterdrückung aus. Trotzdem können identitätspolitische Ideen keine tatsächliche Perspektive für die Kämpfe gegen Unterdrückung aufzeigen und hindern sie sogar daran, ihr volles Potential zu entfalten. Sie gehen nicht wirklich über das Beschreiben und Anklagen bestimmter Zustände hinaus. Die Lösungsvorschläge bleiben bei Aufrufen zur individuellen Reflexion, Tipps für besseres Verhalten und Symbolpolitik stecken. Mit der Entwicklung von Bewegungen werden auch die Grenzen von Identitätspolitik sichtbar, denn dann rückt die Frage in den Vordergrund, wie wir tatsächlich Verbesserungen erkämpfen und Unterdrückung überwinden können. Vor allem aufgrund der großen Beteiligung aus der Arbeiter*innenklasse greifen Bewegungen in den letzten Jahren auch immer stärker Kampfformen der Arbeiter*innenbewegung auf. Bei BLM zeigt sich diese Entwicklung des Bewusstseins daran, dass die konkrete Forderung nach “defund the police” (sinngemäß: weniger Geld für die Polizei) ins Zentrum der Bewegung gerückt ist. Auch die feministische Bewegung greift immer stärker zum Mittel des Streiks, in Lateinamerika, Spanien aber z.B. auch in der Schweiz, richtet sie sich gegen das gesamte System und lernt international von Kämpfen. 

Diese Entwicklungen zeigen: Je konsequenter der Kampf gegen spezifische Unterdrückung geführt wird, desto allgemeiner muss er das ganze kapitalistische System ins Visier nehmen. Die Mobilisierung der gesamten Arbeiter*innenklasse gegen jede Unterdrückung im Kampf um eine sozialistische Alternative ist entscheidend, um Unterdrückung nicht nur wirkungsvoll bekämpfen, sondern auch beenden zu können. 

 

Identitätspolitik: Was bedeutet Was?

Idealismus: Idealist*innen führen die Welt und die Gesellschaft auf allgemeine abstrakte Begriffe (z.B. “Gott”, “die Vernunft”, aber auch “die Biologie” oder “die Materie”) zurück. Was in einer Gesellschaft passiert, ist dann immer nur die “Verwirklichung” dieser Ideen. Gesellschaftliche Widersprüche sind in der Folge nur Konflikte zwischen “Prinzipien”. Gelöst werden sie dadurch, dass die andere Seite vom eigenen Prinzip überzeugt wird.

Materialismus: Materialist*innen erklären die Ideen, die in einer Gesellschaft existieren, ausgehend von der gesellschaftlichen Praxis, also der Art, wie diese Gesellschaft sich produziert und erhält. Folglich sind selbst die allgemeinsten Ideen, Werte und Vorstellungen historisch-gesellschaftliche Produkte: Also abstrakte Gedankenformen, in denen sich eine bestimmte reale Erfahrung der Welt ausdrückt. Gesellschaftliche Widersprüche analysieren Materialist*innen folglich als Ausdrücke gegensätzlicher konkreter Interessen. Überwunden werden können diese Widersprüche demnach nicht einfach durch “Überzeugung”, sondern nur durch die praktische Umgestaltung des Gesellschaftssystems.

Klasse: Eine gesellschaftliche Klasse ist durch ihre Stellung im Produktionsprozess definiert. Im Kapitalismus besitzen Kapitalist*innen Produktionsmittel (Unternehmen, Maschinen usw.) und verkaufen Waren am Markt, Arbeiter*innen haben nichts zu verkaufen als ihre Arbeitskraft und müssen deshalb für Kapitalist*innen arbeiten. Klassenverhältnisse sind also immer Herrschaftsverhältnisse. Herrschende und beherrschte Klassen haben entgegengesetzte konkrete Interessen. Um Rollstuhlfahrer*innen von Diskriminierung zu befreien, müssen andere Menschen nicht aufhören, zu Fuß zu gehen. Um Arbeiter*innen aus dem Joch der Lohnarbeit zu befreien, müssen Kapitalist*innen aufhören, Kapitalist*innen zu sein. Gelingt es der Arbeiter*innenklasse, die gesellschaftliche Produktion dem Kapital zu entreißen und eine demokratisch geplante Wirtschaft einzuführen, in der niemand von der Ausbeutung anderer profitiert, gibt es auch keine gesellschaftlichen Klassen mehr, deren entgegengesetzte Interessen die Grundlage für Unterdrückung sind. Nur wenn ihnen so der materielle Boden entzogen ist, können unterdrückerische Ideologien auch im Reich der Ideen wirklich absterben.

Postmoderne: Sammelbegriff für Theorien, die sich nach der Enttäuschung über die gescheiterte Revolution von 1968 und in Abgrenzung zu stalinistischen Dogmen zunächst vor allem in Frankreich herausgebildet haben. Die Kritik am Dogmatismus schlug jedoch zunehmend ins andere Extrem um: Jeder Versuch, die gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen und verändern zu wollen wurde als weitere zum Scheitern verurteilte “große Erzählung” (Jean-Francois Lyotard) abgetan. Übrig blieb nur der Rückzug auf das individuelle Bewusstsein, an dem man zu arbeiten habe. So kippten diese Theorien zurück in den Idealismus, weg von kollektiven und gesellschaftlichen Lösungen hin zu individuellen.

 

Kümmert sich die Linke nur noch um Identitätspolitik?

Der Identitätspolitik fehlen Antworten darauf, wie spezifische Unterdrückung beendet werden kann.

Für Marxist*innen ist der Kampf gegen spezifische Unterdrückung integraler Bestandteil des Kampfes um eine sozialistische Welt. Der Unterschied zwischen Marxist*innen und identitätspolitischen Ideen besteht in der Analyse, woher Unterdrückung kommt - und das wirkt sich auch entscheidend auf die politische Praxis aus. Während der Marxismus materialistisch erklärt, wie die Klassengesellschaft Unterdrückung entlang von Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität usw. hervorbringt, konzentriert sich Identitätspolitik idealistisch auf die Bedeutung von Bewusstsein, Ideen, Ideologien usw.

Genau dadurch bleibt die Identitätspolitik aber auch der idealistischen bürgerlichen Ideologie verhaftet: Identität wird als Eigenschaft eines autonomen Individuums verstanden, Gesellschaft als Summe der Individuen und ihrer Identitäten. Marxist*innen sehen dies genau umgekehrt: Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Menschen leben, bringen diese erst als Individuen mit bestimmten gesellschaftlichen Rollen, die als “Identität” gefühlt werden, hervor. Das heißt in diesem Zusammenhang: Erst durch Unterdrückung wird die “Identität”, auf die sich Identitätspolitik stützt, überhaupt erst geschaffen. Die gemeinsame Erfahrung von Ausbeutung und Rassismus migrantischer Arbeitskräfte schafft die Identität als “Migrant*in”, Abtreibungsverbote oder Kinderzwang, ungleiche Löhne oder Zwang zur unbezahlten Hausarbeit schaffen die Identität als “Frau”. Dasselbe gilt auch für nationale Identität unterdrückter Nationen: Die Geschichte von durchgehender Verfolgung und Unterdrückung schafft die Identität als “Kurd*in”, die Besatzungspolitik der israelischen Regierung schafft die Identität als “Palästinenser*in” usw.

Der Kampf gegen spezifische Unterdrückung war zwar in der Theorie von Anfang an Bestandteil des Marxismus - das heißt aber nicht, dass die Arbeiter*innenbewegung auch  immer die beste Rolle darin gespielt hätte. Die Entwicklung der zweiten Welle der Frauenbewegung zum Beispiel und die spätere Dominanz kleinbürgerlicher Ideen in ihr hing eng damit zusammen, dass die Führung der Arbeiter*innenbewegung und Linke diese Themen unzureichend aufgegriffen hatte. Die Entstehung von “Identitätspolitik” reiht sich darin ein. Der Zusammenbruch des Stalinismus, eine fehlende Systemalternative zum Kapitalismus und der Niedergang der internationalen Arbeiter*innenbewegung legten die Basis für postmoderne Ideen und damit für die Ablehnung kollektiver Gesellschaftsveränderungen und einer Analyse der Gesellschaft als “ganzes System”, wie sie Marxist*innen vertreten. 

Auch die herrschende Klasse nutzt Identitätspolitik, um die zunehmende Radikalisierung innerhalb der Arbeiter*innenklasse und Jugend gegen Rassismus und Sexismus in “harmlose” Bahnen zu lenken und damit echte Veränderung zu vermeiden. Joe Bidens Kabinett wurde aufgrund der hohen Anzahl an Frauen und PoC (People of Colour) als historisch einzigartig bezeichnet. Dass das jedoch nichts an der realen Politik der US-Regierung, an der rassistischen Polizeigewalt, an der imperialistischen Kriegspolitik und an den sozialen Verwerfungen des US-Kapitalismus ändert, ist vielen Menschen, die sich in den letzten Jahren in Bewegungen wie #metoo oder Black Lives Matter radikalisiert haben, bewusst. Damit zusammenhängend haben sich viele identitätspolitische Ansätze von dieser Form der “Repräsentationspolitik” abgegrenzt. Was ihnen dennoch bleibt, ist der starke Fokus auf das Individuum. Daraus folgt dann wiederum ein Fokus auf individuelle Lösungsansätze: Check deine Privilegien, reflektier dein Verhalten - achte vor allem darauf, was du in deinem alltäglichen Leben anders machen kannst. Es geht viel um das “Sichtbarmachen” von Diskriminierung und wie durch verändertes Verhalten, Erziehung usw. die Gesellschaft verändert werden kann.

Genau hier liegt nicht nur die Attraktivität dieser Ideen, sondern auch ihre Perspektivlosigkeit. Denn die kapitalistische Gesellschaft ist nicht einfach die Summe der Individuen und ihrer Ideen, sondern ein System, das durch die Profitlogik und -Notwendigkeit der herrschenden Klasse bestimmt ist. Rassistische oder sexistische Diskriminierung werden bei Identitätspolitik nicht als Aspekte der kapitalistischen Klassengesellschaft begriffen, sondern davon abgetrennt. Mangels einer Analyse des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs können sie auch keine reale Kampfstrategie gegen systematische Unterdrückung entwickeln. In der Praxis können solche Ansätze das Potential von antirassistischen und antisexistischen Bewegungen sogar gefährden: So wird etwa Menschen, die eine Unterdrückungsform nicht unmittelbar am eigenen Leib erleben, abgesprochen, im Kampf dagegen theoretisch wie praktisch etwas beitragen zu können. Dadurch wird auf der praktischen Ebene Solidarisierung erschwert. 

Doch auch die prominenten “Kritiker*innen” der Identitätspolitik befinden sich letztlich auf dem gleichen Boden wie sie. Wenn Sahra Wagenknecht von “skurrilen Minderheiten” spricht, die sie von den “normalen” kleinen Leuten unterscheidet, tut sie damit zwei Dinge: Einerseits polemisiert sie bewusst gegen Migrant*innen und LGBTQ+ Personen. Andererseits erschafft sie selbst ein identitätspolitisches Bild einer homogenen Schweinsbraten-und-Sauerkraut-“Arbeiterklasse”, die es so nicht gibt und nie gegeben hat. Wenn sie dann noch zwar etwas mehr Almosen für dieses zusammenfantasierte Konstrukt fordert, aber gleichzeitig die angebliche Interessensgleichheit von Kapitalist*innen und Arbeiter*innen propagiert, hat das mit echter Klassenpolitik nichts zu tun. Diese müsste dabei ansetzen, die unterdrücktesten Schichten der Klasse zu organisieren und jene Schichten, die bestimmte Unterdrückungsformen nicht direkt am eigenen Leib spüren, davon zu überzeugen, dass auch sie in diesen Kämpfen nicht etwas zu verlieren, sondern zu gewinnen haben. Nationalismus, Rassismus und Sexismus nachzugeben anstatt sie herauszufordern schadet letztlich der gesamten Klasse, weil es gemeinsame Kämpfe um ein Ende der Klassenherrschaft erschwert. Denn es ist dasselbe kapitalistische System und es sind dieselben Verantwortlichen, die Sexismus und Rassismus befördern und davon profitieren, unter denen die gesamte Arbeiter*innenklasse zu leiden hat. 

Lenin schrieb 1902 in “Was tun?” über die Notwendigkeit, als revolutionäre Sozialist*innen Antworten auf alle Ausprägungen von Ungleichheit und Unterdrückung zu formulieren und alle Formen der Ungerechtigkeit, die aus dem System erwachsen, anzuprangern, weil sie die tägliche Realität der Arbeiter*innenklasse darstellen. Letztlich geht es also darum: Nicht ob, sondern mit welchen Forderungen, mit welchem Programm und mit welchen Kampfmethoden Linke und Marxist*innen für ein Ende von spezifischer Unterdrückung und Diskriminierung kämpfen.

 

Intersektionalität ist nicht die Brücke zum Marxismus

In Debatten um Identitätspolitik fällt oft der Begriff Intersektionalität. Damit soll beschrieben werden, wie verschiedene Unterdrückungsformen sich „überkreuzen“ (englisch: „intersection“ = Kreuzung). In der politischen Praxis wird darunter meistens zunächst verstanden, dass es keine isolierten Kämpfe nur gegen Rassismus oder nur gegen Kürzungspolitik geben sollte, sondern dass diese Kämpfe „verbunden“ werden sollten. Überwindet Intersektionalität also die Probleme der Identitätspolitik?

Marxist*innen teilen die Ansicht, dass alle Unterdrückungsformen gemeinsam bekämpft werden müssen, vorbehaltlos. Im intersektionalen Bild verschiedener Kämpfe, die „verbunden“ werden sollten, ist jedoch auch die zentrale theoretische Schwäche benannt: Zwar können konkrete Erfahrungen als „Koordinaten“ in einem Raster verschiedener Unterdrückungs“achsen“ beschrieben werden – woher allerdings diese „Achsen“ (Rassismus, Sexismus usw.) selbst kommen, bleibt dabei offen. Es bleibt nur, sie als Bewusstseinsformen zu problematisieren. Die Grundprobleme der Identitätspolitik kann die Intersektionalität also nicht lösen, weil sie auf demselben Boden wie diese steht.

Marxist*innen meinen, dass Rassismus, Sexismus usw. nicht einfach Vorurteile sind, die man “weg-reflektieren” kann: Die Unterdrückungs”achsen” schweben nicht im luftleeren Raum. Sie müssen aus der Organisation des materiellen Lebens einer Gesellschaft erklärt werden, um sie - durch eine Umwälzung dieser Verhältnisse - wirklich überwinden zu können. Genau diese Gesamtheit von Produktion und Reproduktion – das, was eine Gesellschaft erst möglich macht – ist das Terrain, das mit einem besonderen Unterdrückungsverhältnis zusammenfällt: Klasse.

Klasse ist damit keine weitere Unterdrückungs„achse“, sondern das Verhältnis, welches die materiellen Bedingungen dafür schafft, dass Menschen auf die unterschiedlichsten Weisen unterdrückt werden. Die historischen Ursprünge verschiedener Unterdrückungsverhältnisse lagen in erzwungenen Rollen bestimmter Gruppen in klassengesellschaftlich organisierten Arbeitsteilungsprozessen: Die Verbannung der Frauen in die Reproduktionsarbeit beschreibt Engels als Zusammenfallen „der ersten Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche“ (Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 1884). Sklaverei, Feudalismus und Kolonisation wiesen ganzen Völkern bestimmte Rollen im Gesamtprozess gesellschaftlicher Produktion zu. Unterdrückungsverhältnisse wie Patriarchat und Rassismus haben ihre Wurzel in der nach Klassen organisierten Arbeitsteilung. Auch wenn sie sich längst zu Ideologien verselbständigt haben, ist ihnen hier der materielle Boden zu entziehen. Es geht also nicht darum, separate Kämpfe zu „verbinden“, sondern alle Kämpfe als Klassenkämpfe zu führen. Klassenkampf ist also auch weit mehr als Kämpfe um Löhne usw. – er ist ein Kampf ums Ganze, also gegen jede Unterdrückung.

Zum Weiterlesen: Laura Fitzgerald: Jede Unterdrückung bekämpfen - ein marxistischer Blick

 

Gemeinsam weil Gleich & Verschieden

“Positive Diskriminierung” bleibt an der Oberfläche - am gemeinsamen Kampf führt kein Weg vorbei!

Der Kampf gegen die verschiedensten Formen von Diskriminierung ist enorm wichtig. Uns geht es aber nicht um symbolischen Widerstand oder nur darum, Missstände aufzuzeigen. Wir wollen Diskriminierungen und ihre Ursachen beseitigen.

In Folge der Bürgerrechtsbewegung in den USA entstanden seit den 1970er Jahren verschiedenste, oft auch per Gesetz fixierte, Formen “positiver” Diskriminierung. Die gezielte Bevorzugung einer sonst benachteiligten Gruppe sollte einen Ausgleich schaffen. Zwar kann so Ungerechtigkeit sichtbarer gemacht und auch die eine oder andere Verbesserung erreicht werden, aber sie ändert nichts an den zugrundeliegenden Ursachen für Unterdrückung und kann das Problem daher bestenfalls für Einzelfälle “lösen”. Aber macht eine Partei eine bessere “Frauenpolitik”, wenn mehr Frauen in führenden Positionen sind? Die aktuelle Bundesregierung zeigt: Hier besteht kein automatischer Zusammenhang. Im Gegensatz dazu waren im Zentralkomitee der Bolschewiki 1917 nur wenige Frauen. Aber die Sowjetunion hatte nach der Revolution die international weitreichendsten Maßnahmen für Frauen: Neben dem Wahlrecht auch die einfache Ehescheidung, das Recht auf Abtreibung und v.a. soziale Rechte, Wohnungen und Jobs sowie öffentliche Einrichtungen für Kinderbetreuung und Pflege, um Frauen ein unabhängiges (und auch politisch aktives) Leben zu ermöglichen.

Dass der eine Kampf nicht ohne den anderen geht und beide nur gemeinsam gewonnen werden können, ist nichts Neues. Schon im 19. Jahrhundert gab es Debatten darüber, welche Kämpfe zentral wären und welche angeblich nicht. Schon damals haben jene Teile der Arbeiter*innenbewegung, die auf reformistische Lösungen gesetzt haben (“Schritt für Schritt”) betont, dass “leider” jetzt noch nicht die Zeit wäre, um sich um die spezifischen Unterdrückungen von Teilen der Arbeiter*innenbewegung zu kümmern. So wurden z.B. im Kampf ums Wahlrecht in Österreich Frauen von der sozialdemokratischen Führung auf später vertröstet. Ähnlich setzte derselbe Flügel auch eine nationalistisch-rassistische “unsere Leute zuerst”-Politik gegen migrantische Arbeiter*innen durch und unterstützten im 1. Weltkrieg “ihre” herrschende Klasse. 

Ganz anders der Zugang von Revolutionär*innen wie Clara Zetkin, Karl Liebknecht & Co.: Die Einheit der Arbeiter*innenklasse in ihrer Vielschichtigkeit war für sie zentral und unerlässlich für den erfolgreichen Kampf der ganzen Klasse. 

Es ist daher auch kein Zufall, dass Liebknecht einer der Gründer der Sozialistischen Jugendinternationale war und sich für volle und gleiche Rechte migrantischer Arbeiter*innen einsetzte. Auch in der heutigen Zeit trennen Revolutionär*innen nicht künstlich zwischen verschiedenen Kämpfen: Socialist Alternative, die US-Schwesterorganisation der SLP, war etwa führend beim aktuellen “Union drive” bei Amazon in Alabama. Die dortige Belegschaft ist überwiegend schwarz, weiblich und viele hatten sich durch die Black Lives Matter Proteste weiter politisiert. Bei den Kampagnen zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Vertretung ging es nicht um entweder “soziale Rechte” oder “Antirassismus” oder “Frauenrechte”. All das war und ist untrennbar verbunden. Der gemeinsame Kampf der Beschäftigten hat zwar (noch) keine gewerkschaftliche Vertretung erreicht, aber eine besser organisierte und vereintere Belegschaft. Es gibt zahllose weitere Beispiele dafür, wie Einheit durch gemeinsamen Kampf entstehen kann: Beim Tekel-Streik in der Türkei 2009/10 wurden durch viele Diskussionen, die gemeinsamen Proteste und eine Zeltstadt, die gemeinsam betreut wurde, die Spaltung in Türk*innen, Kurd*innen und andere Volksgruppen sowie in Frauen und Männer im Zuge des Kampfes überwunden. In Ägypten, einem Land, in dem sexualisierte Gewalt gegen Frauen alltäglich ist, spricht man von den 18 Tagen der Revolution von 2011 als einer Periode ohne diese Übergriffe. Es war die Periode, als dem alten Regime, das massiv auf Sexismus setzte, die Macht entglitt und sie de facto in den Händen der einfachen Menschen, der Arbeiter*innen und armen Bäuer*innen lag. Der Film Pride zeigt auf, wie LGBTQ+-Aktivist*innen durch den Bergarbeiter*innenstreik in Britannien politisiert wurden und ihrerseits das Bewusstsein der Bergleute veränderten. Auch hier waren es nicht die offiziellen Strukturen der Gewerkschaft, die in der reformistischen “später dann!”-Politik stecken blieben, sondern Aktivist*innen an der Basis, die für diese Entwicklung verantwortlich waren und auch die Gewerkschaft in die richtige Richtung gedrückt haben. Identitätspolitik ist dem Reformismus in der Arbeiter*innenbewegung letztlich recht ähnlich. Wenn man aber alle Unterdrückungsmechanismen überwinden will, dann muss der Kampf gegen jede Unterdrückung als Kampf für die Einheit der Unterdrückten im Klassenkampf geführt werden. Das ist die Herangehensweise sozialistischer Revolutionär*innen - Join in the fight!

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