Wie den „Islamischen Staat“ stoppen?

Gegen US-Luftschläge und Waffenlieferungen an reaktionäre Kräfte – für kritische Unterstützung des Widerstands der PKK und YPG/HPG
Sascha Stanicic, CWI Deutschland

Die Welt schaut entsetzt und gebannt auf den Vormarsch der Truppen des „Islamischen Staats“ (IS), die mordend, vergewaltigend und brandschatzend in den letzten Wochen eine Stadt nach der anderen im Norden des Irak eingenommen haben. Hunderttausende sind auf der Flucht. Vor allem das Schicksal der JesidInnen, einer religiösen Minderheit unter den KurdInnen, hat in den letzten Tagen viele Menschen bewegt. Auch in Deutschland ist es zu Solidaritätsdemonstrationen gekommen. Die USA haben nun erste Luftschläge gegen die IS-Truppen geflogen. Während das Pentagon deren Effektivität in Frage gestellt hat, behauptet Obama, diese hätten eine entscheidende Rolle dabei gespielt, den Flüchtenden den Weg aus den Bergen freizukämpfen.

Ulla Jelpke, Bundestagsabgeordnete der LINKEN, ist zur Zeit in der autonomen kurdischen Region Rojava in Syrien und berichtet, dass es vor allem die kurdischen KämpferInnen der linken Guerillaarmeen der PKK und der YPG/HPG waren, die den Kampf gegen die IS aufgenommen und den Flüchtlingen den Weg frei geschossen haben.

Viele KurdInnen und manche Linke unterstützen jedoch die Luftschläge der USA als Hilfe im Kampf gegen die Dschihadisten. Gregor Gysi hat diese zwar abgelehnt, gleichzeitig aber Waffenlieferungen an die irakische Armee und die kurdischen Peschmerga-Truppen der reaktionären Barzani-Partei KDP (Kurdische Demokratische Partei) gefordert. Auf den ersten Blick erscheint das nachvollziehbar. Wieso auf Hilfe verzichten, wenn dadurch ein drohender Völkermord verhindert werden kann? Doch Luftschläge der USA und/oder anderer westlicher imperialistischer Staaten könnten mehr negative als positive Folgen für die Menschen im Irak haben.

Verantwortung der Imperialisten für IS-Aufstieg

Der IS ist das Frankenstein-Monster des US-Imperialismus. Er ist ein Ableger von Al Qaida. Es ist bekannt, dass die historischen Wurzeln von Al Qaida auf den Kampf islamistischer Mujaheddin gegen das sowjetfreundliche und nichtkapitalistische Regime in Afghanistan in den 1980er Jahren zurückgeführt werden können – welche direkt von den USA ausgebildet und finanziert wurden. Als die Sowjetunion Geschichte wurde, wandten sich die Islamisten gegen die USA und die USA gegen die Islamisten, die ein Hindernis bei der Ausbeutung und neokolonialen Dominanz über den Nahen und Mittleren Osten wurden. Auf den Krieg gegen das Taliban-Afghanistan folgte der Krieg gegen den Irak unter Saddam Hussein. Begründet mit der Lüge angeblicher Massenvernichtungswaffen, die angeblich im Besitz des Diktators waren, hatte der Krieg der USA und die damit einhergehenden Gräueltaten und Erniedrigungen (Stichwort: Gefängnis von Abu Ghraib) unter anderem eine Folge: Al Qaida konnte sich eine Basis im Irak aufbauen.

Während unter Saddam Hussein die schiitische Bevölkerungsmehrheit ausgegrenzt und diskriminiert wurde, drehte sich der Spieß unter den neuen Machthabern von US-Gnaden um. Unter dem schiitischen Präsidenten Al-Maliki sind es die Sunniten, die sich entrechtet fühlen. Deshalb erhält der IS auch Unterstützung von Kräften der früheren Baath-Partei Saddam Husseins. Der Krieg der USA war ein Krieg für die Kontrolle über die irakischen Ölquellen (wie schon der so genannte erste Golfkrieg 1991). Er wurde mit dem Versprechen auf Demokratie und Freiheit geführt. Ergebnis ist der Zerfall und Niedergang des Irak, Bürgerkrieg, religiöse Spaltung. Leider gibt es nämlich auch Menschen im Irak, die den Vormarsch des IS mit Sympathie oder gar direkter Unterstützung betrachten. Und das nicht (nur) aus religiöser Verbohrtheit, sondern weil sie nun hoffen, als Sunniten wieder mehr Einfluss und Rechte zu erhalten, weil sie die Nase voll hatten von den korrupten und unterdrückerischen Machthabern, die vom IS vertrieben wurden – und vielleicht auch weil der IS nicht nur mordet und brandschatzt, sondern in der im Juni eroberten Stadt Mossul zum Beispiel auch Schulen eröffnet hat, den öffentlichen Nahverkehr wieder ins Laufen brachte und während des Eid al-Fitr Festes (Fest des Fastenbrechens) Lebensmittel verteilte.

Aufbau einer Massenbewegung nötig

Natürlich müssen die Truppen des IS gestoppt werden. Aber der notwendige militärische Kampf muss politisch begleitet werden mit einer Strategie, die die einfachen sunnitischen ArbeiterInnen und Bäuerinnen und Bauern erreichen und eine Einheit der einfachen Bevölkerung des Irak von unten herstellen kann. Nach den Erfahrungen der letzten elf Jahre ist klar, wer diese nicht wird erreichen können: die USA und ein schiitisch dominiertes Regime in Bagdad. Nötig ist der Aufbau einer multiethnischen Arbeiterbewegung, die Selbstverteidigungsmilizen schafft, um den Kampf gegen den IS und andere reaktionäre Kräfte führen zu können.

Jede US-Bombe mag in diesem Zusammenhang möglicherweise ein unmittelbares militärisches „Argument“ gegen den IS sein, politisch wird sie aber die Propaganda des IS stärken: „Seht her, schon wieder wollen die USA einen selbständigen Irak durch Bombenterror verhindern!“

Hinzu kommt, dass es alles andere als sicher ist, dass die von den USA geführten Luftschläge tatsächlich eine Zerstörung des IS zum Ziel haben, noch ist es sicher, dass sie nicht – wie die angeblich gegen die Hamas gerichteten Bombenangriffe in Gaza – das Leben unschuldiger ZivilistInnen fordern werden. Es sollte nicht vergessen werden, dass der NATO-Partner Türkei sehr wahrscheinlich unterstützend für den IS wirkt. Und eine Niederlage der Dschihadisten würde in der gegenwärtigen Situation einer Stärkung der linken kurdischen Befreiungsbewegungen gleich kommen – etwas, das die USA ganz sicher nicht anstreben.

Rojava

Diesen ist es in Rojava gelungen eine autonome Region zu begründen, in der versucht wird demokratische und soziale Errungenschaften durchzusetzen. Im Januar diesen Jahres hat die dortige Demokratische Autonome Versammlung eine „soziale Übereinkunft“ verabschiedet, in der unter anderem Dezentralisierung, freie Bildung in der Muttersprache, Gesundheitsversorgung, Wohnraum und eine Beendigung von Frauendiskriminierung und Kinderarbeit festgeschrieben werden. Rojava ist eine nicht-religiös geprägte Region und im syrischen Bürgerkrieg haben die dort dominierenden Kräfte der PYD deutlich gemacht, dass sie keinen Kampf entlang ethnischer oder religiöser Linien führen. Die Volksverteidigungseinheiten der YPG (in Syrien) und HPG (im Irak), seine Frauenbataillone YPJ und die mit ihnen verbundene PKK in den Kurdengebieten der Türkei stellen zur Zeit die einzige organisierte und militärisch handlungsfähige Kraft in der Region dar, die einen fortschrittlichen Anspruch hat und nicht mit dem westlichen Imperialismus paktiert (wie der Kurdenführer Barzani im Nordirak) oder religiöses Sektierertum vorantreibt. Trotz aller politischer Meinungsverschiedenheiten, die SozialistInnen mit der PKK und der PYD/YPG/HPG haben mögen, sind sie in der gegenwärtigen Situation die einzige Kraft, die man kritisch unterstützen kann. Gleichzeitig ist die zukünftige Entwicklung der PKK, PYD und der mit ihnen verbundenen militärischen Kräfte alles andere als sicher. Sie vertreten kein klares sozialistisches Programm und als vor allem nach militärischen Gesichtspunkten organisierte Kräfte laufen sie Gefahr, dass sie bürokratische bzw. Top-Down-Strukturen in von ihnen kontrollierten Gebieten reproduzieren.

In einem Interview hat der Chefkommandeur der YPG, Sipan Hemo, unter anderem den Eindruck erweckt, dass die Ziele der YPG mit denen des Westens übereinstimmen würden, sollte dieser tatsächlich eine demokratische Entwicklung in der Region wollen. Letzteres erwägend, fordert er die USA und den Westen zur Unterstützung der KurdInnen und der YPG auf. Vor einer solchen Orientierung auf die westlichen imperialistischen Mächte kann man die KurdInnen nur warnen. Der US-Imperialismus hat nur seine eigenen Interessen im Blick. Diese sind nicht Demokratie, sondern Kontrolle über die Ölvorkommen und größtmögliche Dominanz über den Nahen und Mittleren Osten.

Deshalb ist der Weg im Kampf gegen den Islamischen Staat weder mit Obama und über US-Luftangriffe zu führen, noch mit den reaktionären Kräften der irakischen Regierung oder der pro-imperialistischen kurdischen Parteien des Nord-Irak KDP von Barzani und PUK von Talabani. Der einzige militärische Anknüpfungspunkt für eine fortschrittliche Lösung sind die KämpferInnen der PKK und der YPG/HPG. Mit diesen und mit solchen Kräften in der irakischen Bevölkerung, die sich gegen die Dschihadisten und die korrupte Maliki-Regierung stellen, sollte nicht nur der militärische Kampf geführt werden, sondern vor allem auch an den Aufbau einer multiethnischen, sozialistischen Bewegung gegangen werden. Ohne eine demokratisch strukturierte multiethnische und multireligiöse Massenbewegung, die in der Lage ist, die soziale Basis des IS und seiner Verbündeten in der sunnitischen Bevölkerung zu untergraben und eine Einheit von unten auf Klassenbasis herzustellen, wird es für die Bevölkerung im Irak keine Zukunftsperspektive von Frieden und sozialer Entwicklung geben können.

Dass es dafür sehr wohl ein Potenzial in diesem urbanisierten und industrialisierten Land gibt, zeigten gemeinsame Demonstrationen von Schiiten und Sunniten gegen Al-Maliki vor einigen Jahren. PKK, PYD und YPG/HPG sollten sich deshalb nicht auf den militärischen Kampf in den kurdischen Gebieten beschränken, sondern Appelle an die einfache Bevölkerung des gesamten Iraks richten und diese zum gemeinsamen Kampf für ein freies, demokratisches und durch soziale Gleichheit bestimmtes Land aufrufen und einen Beitrag zum Aufbau demokratischer Massenorganisationen leisten. Dazu ist ein Programm gegen die Dschihadisten, gegen die lokalen Warlords, gegen den westlichen Imperialismus und für eine sozialistische Demokratie nötig.

Rolle Deutschlands

Die Bundesrepublik spielt eine Rolle bei der Unterstützung für den Islamischen Staat: durch die Zusammenarbeit mit der Türkei, durch Waffenexporte an Saudi-Arabien und durch das hier geltende Verbot der PKK. Gleichzeitig versuchen Kräfte im Bürgertum, die eine größere Rolle Deutschlands in der Weltpolitik anstreben, den Vormarsch des IS zu nutzen, um ein stärkeres deutsches „Engagement“ einzufordern. Schon haben erste CDU-Abgeordnete einen Bundeswehreinsatz im Irak ins Spiel gebracht. In der Partei DIE LINKE wird die Debatte von Kräften des rechten Parteiflügels genutzt, um einmal mehr die außen- und friedenspolitischen Grundsätze der Partei in Frage zu stellen.

Deshalb müssen die wichtigsten Forderungen lauten:

  • Nein zu einem Bundeswehreinsatz im Irak und zu Waffenlieferungen an die irakische Armee
  • Weg mit dem PKK-Verbot in der Bundesrepublik; Streichung der PKK von der Liste terroristischer Organisationen durch die EU
  • Schluss mit Waffenexporten an die Türkei und Saudi-Arabien
  • Hilfslieferungen an die autonome Region Rojava und die Flüchtlinge im Nordirak
  • Schluss mit dem Vorgehen des türkischen Staats gegen die Solidaritätsbewegung mit Rojava
  • Aufhebung des Embargos durch die Türkei und die Nordirakische Kurdenregion gegen Rojava
  • Schließung der türkischen Grenze für Kämpfer des IS

Gewerkschaften und LINKE sollten nicht nur US-Luftangriffe kritisieren, sondern eine Solidaritätskampagne zur praktischen und finanziellen Unterstützung für die PKK und die YPG/HPG starten. Eine solche Spendensammlung sollte auch für den Ankauf von Waffen für den militärischen Kampf gegen den Islamischen Staat gelten – und für das Recht der PKK/YPG/HPG, sich diese auch in der Bundesrepublik zu beschaffen. Eine solche praktische Solidaritätskampagne wäre etwas anderes als die Rüstungsexporte, die Gysi für das irakische Militär oder die mit den USA paktierenden Peschmerga-Einheiten von Barzani, die den Kampf gegen den IS in den letzten Wochen gar nicht erst aufgenommen hatten, gefordert hat.