Finger weg von unserem historischen Element!

Stefan Reifberger

Nicht erst seit Beginn der Wirtschaftskrise sinken die Reallöhne in Österreich. Der Kollektivvertragsabschluss der Metaller mit +2,1 % liegt erneut unter der Inflation. Die anderen Branchen werden ähnlich abschließen und den Trend der letzten Jahre fortsetzen.

Wie hoch der Arbeitslohn in der kapitalistischen Produktion ist, hängt nicht von der individuellen Leistung des Arbeiters/der Arbeiterin ab. Für einen festgelegten Lohn stellen die ArbeiterInnen ihre Arbeitskraft jeweils für eine bestimmte Zeit zur Verfügung. Damit werden die ArbeiterInnen selbst zu VerkäuferInnen der eigenen Arbeitskraft und befinden sich mit den Unternehmen in einem Interessenskonflikt.
Laut Marx setzt sich die momentane Höhe des Lohnes aus zwei Teilen zusammen. Zum einen ist da das „physische Element“. Das ist die Untergrenze des möglichen Lohnes. Darunter hat die ArbeiterInnenklasse zu wenig Geld, um sich dauerhaft zu reproduzieren (also sich zu ernähren, kleiden, erholen und eine nächste Generation zu „produzieren“). Zusätzlich gibt es das „historische Element“, das das Maß an Lebensqualität bezeichnet, das sich die ArbeiterInnenklasse darüber hinaus erkämpft hat. Dieses Maß wird durch die Höhe des Lohns, aber auch durch den Zugang zu Sozialleistungen, Bildung etc. geprägt. In Europa ist das historische Element noch höher als anderswo. Die ArbeiterInnenbewegung war stärker und konnte einen größeren Teil vom Kuchen erkämpfen. Das historische Element ist aber nicht in Stein gemeißelt, sondern hängt vom Kräfteverhältnis zwischen ArbeiterInnen und Kapital ab. Je mehr ArbeiterInnen am Arbeitsmarkt zu Verfügung stehen, umso mehr Druck kann so auch auf den Lohn jedes/r Einzelnen ausgeübt werden. Marx schreibt dazu: „Dies historische oder gesellschaftliche Element, das in den Wert der Arbeit eingeht, kann gestärkt oder geschwächt, ja ganz ausgelöscht werden, so dass nichts übrigbleibt als die physische Grenze.“ (Karl Marx: Lohn, Preis, Profit)
Hier kommt der Gesundheits- und Sozialbereich ins Spiel. Hart ausgedrückt: kranke ArbeiterInnen produzieren den KapitalistInnen keinen Profit. Deshalb verlangt die kapitalistische Logik jemanden, der die Arbeitskräfte arbeitsfähig hält. Traditionell wurden und werden solche Aufgaben Frauen aufgebürdet. Doch der moderne Kapitalismus benötigt daneben professionelle und systematisch organisierte Reproduktions-Strukturen. Die ArbeiterInnen in diesem Bereich produzieren zwar keinen direkten Mehrwert in Form von Waren – z.B. machen Spitäler nur insofern Profite, als sie Menschen wieder „profitabel machen“ – sie sind aber den gleichen Widersprüchen ausgesetzt wie ihre KollegInnen in der Produktion. Auch hier werden Löhne gedrückt und Arbeit intensiviert, um Mehrarbeit rauszupressen. Wird im Gesundheitsbereich gekürzt, ist dies aber auch ein allgemeiner Angriff auf den Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse. Das historische Maß an zugänglicher Gesundheit und Lebensqualität wird für die ganze Klasse gesenkt. Es wird versucht, den Lebensstandard an das „physische Element“ anzunähern. Deswegen ist Widerstand in diesem Bereich nicht nur die Angelegenheit der dort Beschäftigten, sondern ein gemeinsamer Kampf um den Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse.
 

 

Mehr zum Thema: 
Erscheint in Zeitungsausgabe: